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BERLINER MORGENPOST: Wohin führt die Ära Erdogan? - Leitartikel

Berlin (ots)

Zum dritten Mal in Folge hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit seiner islamisch geprägten AKP eine Parlamentswahl gewonnen. Aus seiner Herrschaft wird damit eine Ära. Er weiß es selbst, und trat an mit einem Modernisierungsplan bis ins Jahr 2023. Da geht es um einen zweiten Bosporus und einen dritten Flughafen für Istanbul, und gleich eine ganze Reihe neuer Retortenstädte für Millionen von Türken, da das Volk wächst und weiter wachsen soll. Denn, so sagt Erdogan: "Gott will es." Drei Kinder soll jede türkische Frau mindestens haben, insofern hat der Regierungschef soeben das Frauenministerium in ein Familienministerium verwandelt. Im Jahr 2004 schien seine Zukunftsstrategie für die Türkei klar: Alle Kraft voraus zum EU-Beitritt. Aber schon ab 2006 wurden die Maschinen gestoppt und seither nicht mehr angeworfen. Die türkische EU-Integration kam nicht mehr voran, weil Ankara mit anderen Dingen beschäftigt war, die Erdogan wichtiger schienen. Zunächst galt es, mit teilweise wenig demokratischen Mitteln die politische Macht des Militärs zu brechen, den "Staat im Staat" aufzulösen, der eine Demokratisierung verhinderte - aber auch einer Islamisierung im Weg stand. Das ist geschafft. Hunderte Militärs müssen sich wegen politischer Einmischung vor Gericht verantworten, das Offizierskorps ist politisch kraft- und hoffnungslos. Die Umverteilung der Macht in Erdogans Türkei, die Rückbesinnung auf Islam und osmanische Traditionen, aber inspiriert von modernistischen Vorstellungen der religiös-nationalistischen "Gülen-Bewegung", das alles summiert sich zu einer tiefen Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und politischem System. Erdogan ist der größte Veränderer des Landes seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Aber immer noch ist nicht klar, wohin der Weg führen soll. Eigentlich steht jetzt einer Vollendung der Reformen für den EU-Beitritt nichts mehr im Wege. Es gibt keine Entschuldigung, wenn Erdogan weiter damit zögert. Er will eine neue Verfassung schreiben; technisch fehlen fünf Stimmen im neuen Parlament, um ein Verfassungsreferendum anzusetzen. Das ist in der real existierenden türkischen Politik locker machbar. Doch der EU-Beitritt und eine entsprechende volle Demokratisierung mit Abschaffung der Zehn-Prozent-Hürde, einem demokratischeren Parteiengesetz, vollen Minderheitenrechten, der Gleichberechtigung für Frauen - das war nicht das Thema von Erdogans Siegesrede am Wahlabend. Sein Sieg sei auch ein Sieg für Gaza, für Jerusalem, für Sarajevo, rief er stattdessen - und zählte damit alle einstigen muslimischen Hauptstädte und Regionen des früheren Osmanischen Reiches auf. Die nächsten Jahre werden zeigen, was Erdogan unter Zukunft versteht: Modernistische Neo-Islamisierung und Neu-Osmanismus oder EU-Beitritt. Seine bisherige Strategie, inspiriert von seiner "grauen Eminenz", Außenminister Ahmet Davutoglu, deutet eher auf das Ziel, eine modernisierte Türkei zum Bannerträger der islamischen Welt zu machen, und dann weiterzusehen. Was die "Ära Erdogan" betrifft, so ist sie offensichtlich noch lange nicht am Ziel.

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