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"Vollbild" vom SWR: Russische Visa locken Flüchtlinge aus dem Nahen Osten an die EU-Außengrenzen

Mainz/Berlin (ots)

Auswärtiges Amt: Zunahme unerlaubter Migrationsbewegungen über Russland / "Vollbild" vom SWR: Online ab 13.12.2022 ab 17 Uhr auf www.youtube.com/vollbild und in der ARD Mediathek

Nachdem Russland Anfang Oktober im Rahmen eines so genannten "Open Skies"-Programms den Flughafen Kaliningrad für ausländische Fluggesellschaften freigegeben hat, begeben sich vermehrt Menschen aus dem Nahen Osten auf die Route über die russische Exklave an der Ostsee. Das zeigen Recherchen des investigativen SWR-Rechercheformats "Vollbild" (Video online ab 13.12., 17 Uhr auf YouTube und in der ARD Mediathek). Aus dem Auswärtigen Amt heißt es dazu: "Seit einigen Monaten beobachten die Bundesregierung und EU-Partner eine Zunahme von unerlaubten Migrationsbewegungen auf der Route über Russland [...]. Lettland, Litauen und Polen berichten über Fälle von unerlaubt aus Belarus eingereisten Personen mit russischen Visa in ihren Reisepässen."

Das für die Flucht über Kaliningrad benötigte russische Visum kostet im Nordirak nach "Vollbild"-Recherchen etwa 2.500 Dollar und ist offenbar leicht zu erwerben. Ein Schlepper sagte im Gespräch mit einem "Vollbild"-Lockvogel im Nordirak, die Flucht über Belarus koste insgesamt 14.500 Dollar. Die Kaliningrad-Route sei etwas teurer, da der Schmuggler den russischen Behörden nach eigenen Angaben mehr Schmiergeld zahlen müsse als den belarussischen. "Wenn deine Papiere da sind, dann brauchst du von Moskau nach Deutschland zehn Tage", lautete das Versprechen des mit versteckter Kamera gedrehten Schleppers. Das russische Außenministerium ließ eine "Vollbild"-Anfrage dazu unbeantwortet.

Furcht vor Schleppern und Grenzpolizei

"Vollbild" ist es gelungen, Kontakt zu Flüchtenden aufzunehmen. Aras (Name geändert) ist ein Syrer, der sich zurzeit auf der Flucht aus dem Nordirak einen Weg über Moskau und Belarus in die EU sucht. "Vollbild" ist es gelungen, über seine Familie im Nordirak direkt mit ihm ins Gespräch zu kommen. Zum Zeitpunkt der Recherche saß Aras bereits mehrere Wochen in Minsk fest. Seine Schlepper hatten ihm offenbar eine schnelle und unkomplizierte Flucht versprochen: "Wir wissen eigentlich gar nichts. Sie sagen uns nicht die Wahrheit. Sie haben uns gesagt, dass wir zwei Stunden laufen müssen, aber wir sind 20 Stunden gelaufen," sagte Aras.

Auch der aus dem Iran nach Erbil im Nordirak geflüchtete Peyman möchte weiter nach Europa. Dort, so hofft er, könne er die Schussverletzungen operieren lassen, die ihm nach eigenen Angaben während der Proteste im Iran von der Polizei zugefügt wurden. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten konnte er nicht einmal aufstehen. Wenn er es auf legalem Weg nicht schafft, will auch er über Russland versuchen, illegal nach Europa zu kommen und dort Asyl zu beantragen. Auch iranische Raketen- und Drohnenangriffe auf das Kurdengebiet im Irak sind für Flüchtlinge wie Peyman ein Grund, weiter in die EU zu fliehen. Während der Dreharbeiten schlug eine Drohne nur einige Kilometer entfernt vom Aufenthaltsort des Kamerateams ein. "Vollbild" konnte die Einschlagstelle inspizieren. Dort berichtete ein kurdischer Kämpfer, dass mehrere Kämpfer durch den Angriff getötet worden seien.

Werbung für Fluchtroute über Social Media

Schmuggler schalten über Soziale Medien offenbar regelrechte Werbekampagnen für ihre Dienste, bieten offenbar sogar Vergünstigungen an. Wer weitere Menschen für die Fluchtrouten anwerbe, könne Rabatt erhalten. Das berichtete ein Informant aus dem Schleppermilieu. In Telegramgruppen kursieren zudem Werbevideos von Geflüchteten, die ihr Ziel erreicht haben. "Wir beobachten, dass [...] diese Route via Russland und Belarus in sozialen Medien beworben wird", hieß es dazu aus dem Auswärtigen Amt.

Reisebüros sind für Geflüchtete oftmals erster Anlaufpunkt

Für Menschen, die mit einem russischen Visum in die EU fliehen wollen, ist der Besuch eines Reisebüros oft die erste Station. Der Inhaber eines Reisebüros im kurdisch-irakischen Sulaimaniyya sagte zu "Vollbild", die Verkäufe von russischen Visa hätten in den vergangenen Monaten zugenommen. "Die meisten Tickets, die wir in einem Monat verkauft haben, waren 750 bis 1.000. Das war während der wärmeren Jahreszeit. Jetzt im Winter sind es zehn bis 20 Reisende pro Monat." Die Frage, ob der Reisebüro-Inhaber etwas mit Schmugglern zu tun hat, verneinte er gegenüber "Vollbild". "Die Arbeit, die wir machen, wie zum Beispiel die Bewerbung auf ein Visum oder den Verkauf von Flugtickets, ist legal."

Route über Kaliningrad mit großen Risiken verbunden

Im vergangenen Jahr hatte sich eine Fluchtroute über Belarus gebildet, die über Polen in die EU führte. Die Route nach Kaliningrad sei laut Reisebüroinhaber entstanden, weil die belarussische Regierung zunehmend härter gegen Geflüchtete vorgehe. Genau wie die Belarus-Route sei auch der Weg über Kaliningrad mit hohen Risiken verbunden. In den belarussischen Wäldern an der Grenze zu Polen waren laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) im vergangenen Winter mindestens 21 Menschen auf der Flucht in der Kälte ums Leben gekommen. Irakische Schleuser sagten jetzt gegenüber "Vollbild", dass diese Fluchtroute weiterhin bestehe.

Wie gefährlich der Versuch sein kann, die Grenze zu überqueren, weiß auch Paulina Bownik. Die Ärztin versorgt seit August 2021 Geflüchtete, die über die belarussische Grenze nach Polen gekommen sind. Seit dem Bau des Zauns sehe sie überwiegend Beinbrüche, aber auch Kopfverletzungen. "Die Geflüchteten, die aus Belarus kommen, tragen Zeichen von Gewalteinwirkung." Sie geht davon aus, dass belarussische Sicherheitskräfte diese Geflüchteten geschlagen hätten. Im Winter sehe sie aber auch Unterkühlungen sowie Menschen, die unter Mangelernährung litten.

Polen reagiert mit verstärktem Grenzschutz

Polen reagiert nach eigenen Angaben auf das russische "Open-Skies-Programm". Der polnische Grenzschutz teilte auf "Vollbild"-Anfrage mit: "Als Antwort auf diese Entscheidung sichert die polnische Regierung die Grenze zum Oblast Kaliningrad präventiv. Als Teil der Aktion errichten die polnischen Streitkräfte eine temporäre Stacheldrahtbarriere."

Osteuropaexperte sieht Kaliningrad als "Stachel im Fleisch der Nato"

Nachdem Russland im Februar in den Angriffskrieg gegen die Ukraine gezogen ist, liegt für Dr. Kai-Olaf Lang, Osteuropaexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, die Vermutung nahe, dass Russland mit der niedrigschwelligen Vergabe von Visa an Migranten aus dem Nahen Osten eine Strategie verfolge: Die Flüchtlinge sollten Druck auf die EU- und Nato-Länder ausüben. "Wir sehen jetzt auch im Kontext der Migration, dass Kaliningrad eben auch auf eine andere Art und Weise ein Stachel im Fleisch der NATO sein kann," sagte Lang. "Ich glaube, die primäre Absicht besteht darin, Instabilität in diese Länder zu bringen."

"Vollbild" vom SWR ist das neue investigative Recherche-Format aus der Werkstatt von "Report Mainz" und LABO M. Alle zwei Wochen dienstags erscheint ein neues Video auf YouTube und in der ARD Mediathek.

Weitere Infos auch auf www.youtube.com/vollbild und in der ARD Mediathek

Zitate gegen Quellenangabe "Vollbild" frei.

Bei Rückfragen rufen Sie bitte in der Redaktion "Vollbild" an, Tel. 06131 929-33351.

Original-Content von: SWR - Südwestrundfunk, übermittelt durch news aktuell

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