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Berliner Morgenpost: Die SPD braucht einen Kraftprotz - Leitartikel

Berlin (ots)

Im Mai 1974 schrieb Willy Brandt mit der Hand an
Bundespräsident Gustav Heinemann: "Ich übernehme die politische 
Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der 
Agentenaffäre Guillaume und erkläre meinen Rücktritt vom Amt des 
Bundeskanzlers." Damals zog "Verantwortung übernehmen" unweigerlich 
einen zweiten Begriff nach sich: "Rücktritt". Loslassen und 
Freimachen bilden wesentliche Zutaten der Demokratie, diesem nie 
endenden Wechsel der Kräfte. Rücktritt heißt Demut vor dem 
Gemeinwesen und Vertrauen in Neues.
Zögerlich folgt die SPD jetzt dieser Tradition. Zuerst 
Generalsekretär Hubertus Heil, dann Finanzminister Steinbrück. 
Respekt. Parteichef Müntefering zog zwar nach, aber er hat den 
idealen Zeitpunkt verpasst. Er hätte, wie 1998 Helmut Kohl, am 
Wahlabend abtreten müssen; ein symbolischer Akt, der eine Ära beendet
und den Neuanfang ermöglicht hätte. Das Zaudern des Sauerländers 
erschwert vor allem seinem Wunschnachfolger Sigmar Gabriel die 
Zukunft.
Als relativer Neuling im zentralen Machtgefüge der SPD entwindet 
Steinmeier sich dem Rücktrittsdruck und beansprucht eine Galgenfrist;
zudem kennt er wie kein anderer die Regierungsakteure und kann eine 
gerupfte Fraktion langsam aufbauen. Sein gestriges Wahlergebnis von 
knapp 90 Prozent ist angesichts des Durcheinanders ein klares Votum.
Strippenzieher Münte wollte nicht abtreten, ohne seinen 
Wunschnachfolger Gabriel an die Parteispitze manövriert zu haben und 
mit ihm seine Gefolgsleute, gleichsam als Bollwerk gegen die Brigade 
Nahles. Der künftige Ex-Umweltminister traut sich zweifellos zu, die 
Partei zu führen.
Doch Steinmeiers Wahl mindert Gabriels Chancen, am Ende, beim 
November-Parteitag, auch tatsächlich gewählt zu werden. Der SPD-Basis
wird es jedenfalls sehr schwerfallen, dass sie ein Duo kommandiert, 
das in Schröders Hannover politisch groß geworden ist. Wie beim 
Bundespräsidentenkandidaten könnte also gelten: Wer zuerst genannt 
wird, ist schon so gut wie erledigt. Ein aufgeregter SPD-Parteitag 
lässt sich sein Abstimmungsverhalten nicht diktieren.
Andererseits wäre eine Doppelspitze, welche auch immer, ohnehin nur 
eine Übergangslösung. Es ist ja kein Zufall, dass die erfolgreichen 
Regierungsparteien CDU und FDP jeweils von einer einzigen Kraft 
geführt werden, Merkel und Westerwelle. Was die SPD braucht, ist ein 
moderner Schröder, der das Kunststück fertig bringt, neue Mitte und 
alte Linke zu versöhnen, der zugleich für Mindestlohn und niedrigere 
Unternehmenssteuern steht, ein charismatischer Kraftprotz, auf den 
sich eine Mehrheit wenn auch murrend einlässt. Zur Meisterprüfung 
wird der Umgang mit der Linkspartei. Diese Aufgabe ist komplex genug,
noch einige Vorsitzende zu verschleißen. Steinmeiers relativ sichere 
Position an der Spitze der Fraktion ist derzeit die beste 
Ausgangslage für 2013.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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