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Kommentar von Jens Kleindienst zur Schuldenbremse

Mainz (ots)

Die Zeitenwende wird inflationär ausgerufen, seit Bundeskanzler Olaf Scholz den Begriff populär gemacht hat. Doch das Schulden-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ohne Übertreibung eine Zeitenwende. Mit seiner strengen Auslegung der Schuldenbremse hat Karlsruhe den finanzpolitischen Tricksereien der Ampel ein spektakuläres Ende bereitet. Damit wurde nicht nur dieser Bundesregierung der Boden unter den Füßen weggezogen, auch künftige Regierungen in Bund und Ländern werden mit dem Urteil klarkommen müssen. Das erklärt, warum in der Union nach dem ersten Triumphgefühl das Nachdenken eingesetzt hat.

Mit der Schuldenbremse hat sich der Staat 2009 selbst verpflichtet, im Großen und Ganzen nur so viel Geld auszugeben, wie er einnimmt. Dafür gab es gute Gründe - in den Jahren davor war die Neuverschuldung rapide angestiegen, wobei mit den Krediten auch Sozialleistungen finanziert wurden. Kurz: Der Staat lebte über seine Verhältnisse. In den Folgejahren entfaltete die Bremse die erhoffte Wirkung - neue Ausgabendisziplin und eine gut laufende Wirtschaft sorgten zeitweise sogar für satte Überschüsse. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit: Wichtige Investitionen wurden aufgeschoben. Der schlechte Zustand der Infrastruktur - marode Straßen, vergammelte Schulen, lahmes Internet - hat auch etwas mit der Schuldenbremse zu tun.

Die Welt ist heute eine andere als 2009. Die Instandsetzung der kaputt gesparten Bundeswehr ist spätestens seit dem Einfall Russlands in die Ukraine existenziell - die abgesicherten 100 Milliarden Euro dafür sind nur der Anfang. Ohne massive staatliche Zuschüsse würde die energetische Sanierung Millionen Hauseigentümer ruinieren. Ohne neue Stromautobahnen bleibt die Energiewende ein Torso. Der Umbau der Industrie in Richtung Klimaneutralität ist zwar in erster Linie Aufgabe der Unternehmen, doch muss der Staat Impulse setzen. Ohne Vorleistungen in die Ladeinfrastruktur nimmt die Elektromobilität kein Tempo auf. Ohne die Milliardeninvestitionen in die Schiene und den öffentlichen Nahverkehr, die jetzt wieder auf der Kippe stehen, kann die Verkehrswende schon gar nicht gelingen. Und ohne den Aufbau eines Wasserstoffnetzes wird die Grundstoffchemie abwandern, kann hierzulande kein grüner Stahl produziert werden. China und die USA gehen hier längst in die Vollen. Wird Deutschland abgehängt, droht der Abstieg in die zweite oder dritte Liga.

Vieles wird man ohne neue Kredite finanzieren können und müssen. Das heißt: priorisieren, Subventionen kappen, Sozialleistungen überprüfen und bei Spitzenverdienern etwas einsammeln. All das - politisch schon brisant - wird aber nicht reichen. Deutschland wird einige Jahre lang mehr Schulden machen müssen als die Verfassung heute erlaubt. In ihrer jetzigen Ausgestaltung ist die Schuldenbremse daher eine gefährliche Investitions- und Innovationsbremse. Sollte sie also wieder aus dem Grundgesetz verschwinden? Nein. Allerdings braucht sie eine Renovierung. Ansätze und Ideen gibt es. Die jetzige Regelung ist zu pauschal, weil sie nicht unterscheidet zwischen laufenden Ausgaben und Investitionen. Sie ist zu unflexibel, weil sie nicht erlaubt, Überschüsse aus guten Jahren für schlechte Zeiten anzusparen. Sie ist zu streng - das Limit von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung für neue Schulden ist ein willkürlicher Wert ohne ökonomische Herleitung. Wären 1,0 oder 1,5 Prozent erlaubt, würde die Verschuldungsquote auch bei mäßigem Wirtschaftswachstum nicht steigen - und windige Fonds wären überflüssig. Sogar die Bundesbank hat schon vor einem Jahr eine Lockerung in diesem Sinne empfohlen.

Eine Reform geht aber nicht ohne die Opposition. Es ist ein Erfolg der Union, dass sie den Finanzjongleuren der Ampel ihre Grenzen aufgezeigt hat. Doch liegt es auch in ihrem Interesse, die Schuldenregel jetzt an die Anforderungen der Gegenwart anzupassen. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, hat das als erster CDU-Länderchef sehr klar ausgesprochen, inzwischen sind ihm Reiner Haseloff und Michael Kretschmer gefolgt. Das gibt Anlass zu Hoffnung.

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