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Landeszeitung Lüneburg: Der Islam muss ein Teil Deutschlands sein Die Kieler Islamwissenschaftlerin Prof. Anja Pistor-Hatam antwortet auf Horst Seehofer und Alexander Dobrindt

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Lüneburg/Kiel. Ein Gespenst geht um in den christlichen Parteien: der Islam. Gehört er zu Deutschland oder nicht? Diese Frage hat die Debatte über die Integration muslimischer Migranten zu einem harten Konflikt der Schwesterparteien zugespitzt. "Wir können nicht den Gang der Geschichte aufhalten", sprang Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) der Kanzlerin bei, die die Frage bejaht. In der CSU wird das anders gesehen: Bundesinnenminister Horst Seehofer sagt, der Ilsam gehörte nicht zu Deutschland, die hier lebenden Muslime aber gehörten "selbstverständlich" dazu. Alexander Dobrindt, CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, spitzte noch einmal zu: Der Islam sei für Deutschland "kulturell nicht prägend, und er soll es auch nicht werden". Die Aussagen der CSU-Politiker stoßen bei deutschen Islamwissenschaftlern auf Kritik: "Der Islam muss ein Teil Deutschlands sein", antwortet die Kieler Professorin Anja Pistor-Hatam im "LZ-Interview der Woche", sonst könnten hiesige Muslime ihn nicht in Richtung eines moderneren, aufgeklärten Islam weiterentwickeln. Die Forscherin betont, dass salafistische "Feinde unserer Gesellschaft bekämpft werden müssen". Aber sie mahnt Politiker, die mit Ausgrenzungsstrategien gegenüber dem Islam auf populistischem Stimmenfang sind: "Viele Einwanderer aus muslimischen Ländern wollen ihren Platz in einer offenen Gesellschaft finden - diese müssen wir unterstützen."

Die christlichen Parteien haben sich über die künftige Flüchtlingspolitik verkeilt. Dem Streit liegt aber auch ein unterschiedliches Verständnis vom Islam zugrunde. Für Merkel und Schäuble gehört er zu Deutschland, für Seehofer und Dobrindt nicht. Leistet sich die Union eine Phantomdebatte angesichts von mehr als fünf Prozent Muslimen im Land? Prof. Anja Pistor-Hatam: In der Tat. Angesichts von rund 4,5 Millionen hier lebenden Muslimen lässt sich die Präsenz ihrer Religion schlecht leugnen. Die Trennung, die Herr Seehofer da vornimmt, kann nicht greifen. Institutionell ist der Islam, der spätestens seit den 1970er-Jahren durch eigene Organisationen und Moscheebauten in größerem Stil vertreten ist, ohnehin längst auf gutem Weg, sich neben Christentum und Judentum zu etablieren. Muslime haben in Deutschland nach dem Grundgesetz Artikel 4 ein Recht darauf, ihren Glauben zu leben. Worüber ausschließlich gestritten werden sollte, ist der mögliche Missbrauch dieses Rechts durch radikale Individuen oder Gruppen.

Gibt es überhaupt den Islam als einheitlichen Block? Pistor-Hatam: Nein, den gibt es ebensowenig wie es "das Christentum" gibt. So wie sich die Christenheit in Katholiken, Protestanten und Orthodoxe mit jeweils weiteren Untergruppen unterteilt, weist auch der Islam viele Untergruppen auf. Es ist darüber hinaus unredlich, den Islam auf den "Scharia-Islam" zu reduzieren. AfD-Ideologe Albrecht Glaser hält den Islam für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, weil er andere Religionen als nicht gleichberechtigt einstufe. Hat er recht? Pistor-Haram: Seine Aussage ist falsch und richtig zugleich. Falsch, weil er verallgemeinert und das Selbstverständnis der islamischen Religion ignoriert. So stellt der Koran Mohammad in die Tradition der christlichen und jüdischen Propheten. Der Islam ist nach diesem Verständnis eine der drei Abrahamitischen Religionen. Allerdings ist der Islam nach demselben Selbstverständnis die einzig wahre Religion, der sich Christen und Juden eigentlich anschließen müssten. Hier wird es problematisch. Wie Christen und Juden als Minderheiten in mehrheitlich muslimischen Ländern behandelt werden, ist wieder von Land zu Land unterschiedlich und richtet sich seit Gründung der modernen Nationalstaaten nicht unbedingt nach der Scharia.

Gibt es in Deutschland Tendenzen für die Entwicklung eines modernen, aufgeklärten Islam, der Privatsache ist und keine Handlungsanweisung auch für das staatliche Leben? Pistor-Hatam: Hier gibt es erhebliche Unterschiede zwischen dem Islam in überwiegend muslimischen Ländern und dem Islam in der Diaspora. So gibt es in Deutschland durchaus Muslime, die ein Verhältnis zu ihrer Religion haben wie etwa die Christen in der Mehrheitsbevölkerung, also die Religion als Privatsache ansehen. Gleichzeitig ist der Islam in hohem Maße Orthopraxie, also steht das gemeinsame Handeln - etwa Fasten und Beten - im Mittelpunkt. Orthopraxie und Säkularismus schließen einander aber nicht unbedingt aus. Wie wichtig z. B. das gemeinsame Fastenbrechen in Deutschland inzwischen ist, sieht man daran, dass hochrangige Politiker in ihren Städten oder Bundesländern daran teilnehmen, wie gerade erst der Ministerpräsident Schleswig-Holsteins.

Dienen Kruzifixe in Schulen der Rückbesinnung auf christliche Werte oder nur der Identitätsstiftung durch Abgrenzung? Pistor-Hatam: Ich bezweifele, dass dies überhaupt identitässtiftend wirkt. Das Aufhängen von Kruzifixen scheint mir eher die Säkularisierung eines christlichen Symbols zu sein, indem es für politische Zwecke missbraucht wird. Die Frage ist, ob man nicht noch andere Symbole neben das Kreuz hängen müsste. Wie viele Menschen gehören noch den christlichen Kirchen an? Wie viele haben noch eine christliche Identität? So wirkt die CSU-Aktion ausgrenzend gegenüber einem großen Teil der deutschen Bevölkerung.

Sie kritisieren die Beschwörung eines christlich-jüdischen Erbes als scheinheilig. Warum? Pistor-Hatam: Weil es pure Ausgrenzung ist, sich auf ein lediglich vermeintliches christlich-jüdisches Erbe zu berufen, um Muslime als nicht dazugehörig zu klassifizieren. Zudem verbietet der Blick auf den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden sowie mittelalterliche Pogrome, sich mit jüdischen Wurzeln unserer Kultur zu schmücken. Das Tätervolk vereinnahmt und instrumentalisiert hier die Opfer für aktuelle politische Ziele.

Ist die Scharia ein Gesetzbuch voll mittelalterlich-drakonischer Strafen? Pistor-Hatam: Nein. Erstens ist die Scharia kein Gesetzbuch im klassischen Sinne. Der Scharia liegen als Hauptquellen der Koran und die Sunna, also die vom Propheten überlieferten Handlungen und Aussagen, zugrunde. Da beide Rechtsquellen nicht ausreichen, wurden zudem der Konsens der Gelehrten eines Zeitalters und der Analogieschluss etabliert. Grundsätzlich ist der Koran kein Gesetzbuch, sondern eine Offenbarungsschrift, auch wenn darin sowohl das Verhältnis des Menschen zu Gott als auch das Verhältnis der Menschen untereinander geregelt werden. Drakonische Strafen finden sich im Koran für diejenigen, die göttlichen Geboten zuwiderhandeln - Unzucht, Diebstahl, Alkoholgenuß, Verleumdung wegen Ehebruchs, räuberischer Überfall. Bestraft werden darf jemand allerdings nur dann, wenn sein bzw. ihr Vergehen zweifelsfrei belegt ist, etwa durch Zeugen. Auch das Verhältnis zwischen den Menschen wird nicht bis ins Detail geregelt. Von besonderer Bedeutung ist die Auslegung, also die Exegese des Korans durch die Rechtsgelehrten. Erst dadurch kann diese Offenbarungsschrift verstanden und Rechtsvorschriften ermittelt werden. Schließlich gibt es noch das Rechtsgutachten, die Fatwa. Durch diese Rechtsgutachten, die die muslimischen Gläubigen bei Gelehrten erbeten können, wird das islamische Recht ständig weiterentwickelt. Und dies auch noch abhängig vom Standort. Länder wie Iran haben etwa das islamische Recht in ihrem Sinne, in diesem Fall im Sinne des zwölferschiitischen Zweiges moderner iranischer Prägung kodifiziert. In den meisten Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit basiert zwar das Familienrecht auf der Scharia, viele andere Rechtsgebiete richten sich jedoch nach europäischen Rechtsvorbildern.

In welchen Bereichen wird die Scharia in Deutschland angewandt? Pistor-Hatam: Nehmen wir z. B. das Fasten. Zwar gilt dies im Monat Ramadan als eine der fünf Säulen des Islams, doch gibt es Ausnahmen von diesem Gebot. So sind minderjährige Kinder, Kranke, Reisende oder Schwangere vom Fasten entbunden. Gegebenenfalls können sie es zu einem anderen Zeitpunkt nachholen. Problematisch für die deutsche Gesellschaft sind aber die Bereiche, welche die Menschenrechte betreffen oder die Stellung von Mann und Frau. So sind laut Koran zwar Mann und Frau vor Gott als Menschen gleich, haben jedoch nach Gelehrtenmeinung unterschiedliche Funktionen in Familie und Gesellschaft. Eine Gleichberechtigung und -behandlung im modernen Sinne besteht nach islamischem Recht weder für Frauen noch für Nicht-Musliminnen und Muslime.

Gründet sich die Unterdrückung der Frau in muslimischen Ländern eher auf dem Koran oder eher auf kulturellen Traditionen? Pistor-Hatam: "Unterdrückung" ist ein moderner Begriff, den wir nicht einfach auf einen Text der der Spätantike anwenden können. Die Frage ist vielmehr, ob sich durch den Koran die Situation von Frauen und Mädchen im 7. Jahrhundert änderte und wie wir heute mit koranischen Aussagen umgehen. Auch wenn es seit Jahrzehnten Ansätze einer feministischen Koranauslegung gibt, läßt sich die Gleichstellung von Frau und Mann, so wie sie das Grundgesetz vorschreibt, ebensowenig aus dem Koran ableiten wie aus der Bibel. Natürlich sind auch außerreligiöse Traditionen wirkmächtig bei der Benachteiligung von Frauen, etwas wenn man sich die patriarchalische Stammesstruktur Afghanistans ansieht. Aber Männerdominanz oder eine Überhöhung der Ehre ist nicht an Religion gekoppelt, blickt man etwa auf die Lage vieler Frauen im katholischen Sizilien.

Kann ein Schub der Modernisierung vom liberaleren Islam in der Diaspora zurück in die Kerngebiete ausgehen? Pistor-Hatam: Das ist schwer zu sagen. Welche Islame entwickeln sich außerhalb der islamischen Länder? Bereits unter Bundesbildungsministerin Schavan wurden 2011 Professuren für islamische Theologie in Deutschland eingerichtet, um nach hiesigen wissenschaftlichen Standards Theologen auszubilden. Bei aller Kritik an traditioneller islamischer Rechtsgelehrsamkeit sollte man bedenken, dass wir hierzulande auch erst seit dem 19. Jahrhundert historisch-kritisch mit der Bibel umgehen, indem wir sie als historischen, gewachsenen Text und nicht als Wort Gottes betrachten. Das war - bezogen auf den historisch-kritischen Umgang mit dem Koran - in der islamischen Welt bisher nur in der Türkei möglich. Eine wesentliche Antwort auf die Herren Seehofer und Dobrindt muss daher lauten: Der Islam muss Teil Deutschlands sein, sonst können wir nicht die Rahmenbedingungen schaffen, damit hiesige Muslime ihn weiterentwickeln.

Integration bedarf Integrationsbereitschaft auf der einen und Integrationsangebote auf der anderen Seite. Züchten Politiker, die in einen Ausgrenzungswettbewerb treten, neue Feinde? Pistor-Hatam: Sie bestätigen zumindest einige Muslime in der Ansicht, dass sie in Deutschland gar nicht integriert werden sollen. Und sie verprellen diejenigen Deutschen, die Muslime sind. Wir können nicht alle Menschen für unsere rechtsstaatlichen Prinzipien und unsere pluralistische Gesellschaft gewinnen. Die Feinde unserer Gesellschaft, egal welcher Religion oder Weltanschauung, müssen bekämpft werden. Doch viele Einwanderer aus muslimischen Ländern wollen ihren Platz in einer offenen Gesellschaft finden - diese müssen wir unterstützen.

Ist hierzulande der Koran die Quelle der Radikalsierung von Fundamenalisten oder eher die gescheiterte Integration derjenigen, die zwischen Kulturen verloren gehen? Pistor-Hatam: Es sind sicherlich beide Aspekte relevant. So kann sich der IS zwar auf einzelne Koran-Verse als Rechtfertigung für seinen Terror berufen: "Tötet die Ungläubigen, wo immer ihr sie findet." Aber jede Aussage einer heiligen Schrift muss in ihren Zusammenhang gestellt werden. Dieser Vers etwa war ein Aufruf an die Muslime im 7. Jahrhundert, als die Muslime eine bedrohte Minderheit waren. Exegese wird von islamistischen Terroristen jedoch verworfen. Auch in der Bibel stehen Sätze, die wir, solange wir keine Fundamentalisten sind, nicht wörtlich nehmen.Der Koran kann nur als Quelle für Radikalisierung funktionieren, wenn man große Teile, die zur Achtung des anderen mahnen, ebenso ignoriert wie die Koranauslegung und die Mehrheitsmeinung der Muslime. Die Gründe, welche gerade junge Menschen dazu bewegen, sich z. B. dem IS anzuschließen, sind individuell unterschiedlich. Soziologisch interessant ist ein Ansatz, die Ausreise vieler Muslime aus westlichen Gesellschaften zum IS als eine Art jugendlicher Protestbewegung zu sehen.

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Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
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