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Landeszeitung Lüneburg: Der Kuss der Systemfeinde Italien-Experte Roman Maruhn sieht Pakt der Populisten als Sonderfall, aber auch als Menetekel für ganz Europa

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Lüneburg/Palermo. Das an politischen Kuriositäten nicht eben arme Italien versucht sich gerade an einem gewagten Experiment: In Rom wurde eine Regierung aus Rechts- und Linkspopulisten vereidigt und von beiden Kammern des Parlaments bestätigt. Minister von Lega und Movimento 5 Stelle haben auf den Sesseln der Macht Platz genommen, die sie über Jahre mit Verachtung überzogen und bekämpft haben. Können Feinde des Systems das System regieren, ohne dass es zu Verwerfungen kommt? Der Politologe und ausgewiesene Italien-Kenner Roman Maruhn ist im Interview der Woche skeptisch: "Es gibt sehr viele Ungereimtheiten zwischen den Parteien, deren Wahlkampfversprechen waren leichtfertig, weil sie nicht zu finanzieren sind." Nach der auch für italienische Verhältnisse langen Zeit der Regierungsbildung kann das Land den Wahlkampfmodus nicht verlassen. Am Sonntag stehen Kommunalwahlen an. "Einer der Gründe, warum Lega-Chef Matteo Salvini derzeit mit fremdenfeindlichen Vorstößen omnipräsent ist", sagt Roman Maruhn, der am Goethe-Institut in Palermo arbeitet. Symbolische Attacken gegen Flüchtlinge sollen die eigene Anhängerschaft ruhigstellen, so lange die Populisten-Regierung noch keine reale Politik machen konnte. Zwar sei der Aufstieg der Populisten in Italien Teil der weltweiten Revolte gegen die Globalisierung, so Maruhn, aber auch ein Sonderfall: "Eine derartig verfassungsfeindliche Partei wie die Lega wäre in anderen Ländern gar nicht zur Wahl zugelassen worden."

Wie lässt sich die Wut der Italiener erklären? Roman Maruhn: Dem Wahlerfolg der Populisten liegt Wut zugrunde, mehr aber noch Frustration. Die Italiener sind mehrheitlich frustriert über eine Politik, die schon seit Jahrzehnten keine Antworten mehr findet auf die großen Fragen der Nation wie auf die Bedürfnisse der Bürger. So sind Familien- und Industriepolitik quasi nicht vorhanden - auch nicht im Koalitionsvertrag der beiden neuen Regierungspartner. In den letzten fünf Jahren unter dem Partito Democratico wurde an Stellschrauben des Sozialstaats gedreht, etwa eine Arbeitslosenversicherung eingeführt, doch weite Teile der Bevölkerung profitierten nicht von den Neuerungen. Trotz einer wieder wachsenden Wirtschaft verharrt die Jugendarbeitslosigkeit auf Rekordniveau, ist die Geburtenrate auf dem Tiefstpunkt, weil die Menschen für sich keine Zukunft mehr sehen. Die Familie bleibt das zentrale soziale Sicherungssystem. In dieser Situation misstrauten die Bürger den alten Parteien und honorierten das Schlüsselangebot der Cinque Stelle, ein Grundeinkommen einzuführen. Aus deutscher Perspektive wäre dies eher als Sozialhilfe oder Hartz IV zu bezeichnen. Die Lega punktete mit der populistischen Technik, eine Bevölkerungsgruppe, die sich nicht wehren kann, als Sündenbock anzubieten - Ausländer, insbesondere Afrikaner ohne gültige Aufenthaltserlaubnis. Beide Parteien haben aus der Opposition - also bar jeder Verantwortung für Missstände - einen aggressiven Wahlkampf geführt und sind für leichtfertige Versprechungen belohnt worden.

Wie sie sagten, hat der Partito Democratico Reformen angeschoben, aber einige Schichten nicht erreicht. Erklärt sich daraus die Verachtung, die Matteo Renzi entgegenschlug? Maruhn: Nur zum Teil. Denn in seiner Amtszeit waren klar positive Trends zu verzeichnen. So wurde Italien weltoffener. Zugleich wurde das Migranten-Management professioneller, in Teilen auch härter. Zugleich gelang es, die EU in Haushaltsfragen zu mehr Flexibilität zu bewegen, was dabei half, den Haushalt zu konsolidieren. Aber Renzi stellte sich zu sehr in den Mittelpunkt, kam auch in seiner eigenen Partei schlicht als arrogant rüber. Dafür musste er zahlen: So nutzten viele Bürger Renzis Hauptprojekt, das Referendum über eine Verfassungsreform, die den italienischen Staat effizienter machen sollte, um mit ihm abzurechnen.

Wie groß ist die Verantwortung der alten Parteien und Silvio Berlusconis für die weitgehende Verachtung der politischen Kaste? Maruhn: Der Respekt vor der politischen Klasse ging verloren im Zuge der "Mani pulite", der "sauberen Hände", wie die Aufdeckung korrupter Praktiken der politischen Elite ab 1992 genannt wurde. Durch den Niedergang der Democrazia Cristiana und dem sozialdemokratischen Partito Socialista Italiano wurde das politische System instabil. Und nicht zufällig gelten die Jahre 1993 bis 2013, also die, in denen Silvio Berlusconi maßgeblich für den Kurs Italiens war, als die "verlorenen zwei Jahrzehnte", in denen notwendige Reformen unterblieben. Die Krise ist seit 2011 auf ihrem Höhepunkt. Seitdem haben Cinque Stelle und Lega Zulauf - auch, weil sich die Menschen von diesen Parteien erhoffen, dass sie einen Umbruch zu ihren Lasten verhindern würden.

Berlusconi verachtet Gesetze, verstößt mit Genuss gegen Etikette, sucht Männerfreundschaften mit Autokraten, ist übergriffig gegenüber Frauen und profitierte von starker publizistischer Unterstützung. Ist er ein Vorläufer Trumps? Maruhn: Tatsächlich waren viele Italiener glücklich über Trumps Wahl, waren sie doch fortan nicht mehr allein mit dem Makel behaftet, eine Art Politclown ins mächtigste Amt gewählt zu haben. Tatsächlich trägt Berlusconi persönlich Verantwortung für das beklagenswerte Frauenbild in Italien, weil er sich mit seinen "bunga bunga"-Partys mit minderjährigen Prostituierten brüstete. Und wie kann vom einfachen Bürger Steuerehrlichkeit erwartet werden, wenn ihm sein Ministerpräsident im Wahlkampf rät: "Sind Dir die Steuern zu hoch, zahle nicht!"?

Ist der Aufstieg der italienischen Populisten lediglich ein Teil einer globalen Revolte gegen die Globalisierung oder gibt es einen spezifisch italienischen Anteil? Maruhn: Es ist beides richtig, aber das typisch italienische Momentum ist gerade bei der Lega stark. Eine derart in Gegnerschaft zum System stehende Partei wäre in anderen Staaten als verfassungsfeindlich verboten worden. Und auch wenn sich im Movimento Cinque Stelle Elemente klassischer Protestparteien finden, ist sie derart stark ein Projekt ihres Gründers Beppe Grillo und von Anbeginn an vor allem eine Anti-Berlusconi-Bewegung, dass auch sie als italienischer Sonderfall gelten kann. In der Folge können zwei Anti-System-Parteien die Regierung stellen.

Gibt es eine europäische oder sogar deutsche Mitverantwortung - Stichworte Flüchtlingskrise und Sparkommissar - für die Entstehung einer verlorenen Generation der 25-40-Jährigen, die keine Chance auf einen Job hatten? Maruhn: Aus italienischer Perspektive lautet die Antwort: ja! Ich würde dies allerdings bestreiten, weil andere europäische Länder vergleichbare Krisen gemeistert haben, ohne nach Sündenböcken zu suchen. Deutschland bekommt viel von der Polemik ab, weil es als größtes Land im Ministerrat und Europäischem Parlament am meisten Einfluss auf das Management der Finanz- und Schuldenkrise hat. Dass andere europäische Schwergewichte sich in der Krise weggeduckt haben, wird bei einer solchen Sichtweise allerdings ignoriert. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass Italien in die größten Probleme schlitterte, als Berlusconi 2011 die Märkte glauben ließ, Italien könne seine Schulden nicht zurückzahlen wollen. Diesen handwerklichen Regierungsfehler mussten die Italiener ausbaden. Doch wer als Nation während des Diskussionsprozesses in der EU gerne abseits steht, um danach zu protestieren und den Schuldigen außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu suchen, ist nicht reif für die EU.

Sowohl Beppe Grillo als auch Salvini liebäugeln immer mal wieder mit einem "Marsch auf Rom". Nur Effekthascherei oder Ausdruch einer nicht vollzogenen Vergangenheitsbewältigung in Bezug auf den Faschismus? Maruhn: In der Tat ist die Botschaft verstörend, weil sie die Drohung mit einer außerparlamentarischen Machtübernahme beinhaltet. So etwas ist wohl nur möglich, weil sich Italien nach dem Krieg umstandslos in die Tradition des Widerstandes gestellt und so das Trugbild genährt hat, den Faschismus aus eigener Kraft überwunden zu haben. Ein möglicher "Marsch auf Rom" in Nachahmung von Benito Mussolini hat sich nun erledigt. Cinque Stelle und Lega werden die Regierung übernehmen, obwohl sie diese Option im Wahlkampf verneint haben. Bei anderen Parteien haben sie eine derartige Wendigkeit oft als "Wahlbetrug" gegeißelt.

Während die Lega vor allem im Norden Anhänger hat, wurden die Cinque Stelle vor allem im Süden gewählt. Kann dieses Bündnis über die historische Kluft hinweg, die Italien teilt, überhaupt funktionieren? Maruhn: Das ist eine wichtige Frage. Es gibt so viele Ungereimtheiten zwischen beiden Parteien, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass diese Regierung zu einer Versöhnung von Nord und Süd beitragen kann.

Die beiden populistischen Parteien wollen trotz immenser Staatsschulden ein Füllhorn an Wohltaten - 780 Euro Grundeinkommen und Steuersenkungen - über den Wählern ausschütten. Ist ihr eigentliches Ziel der Italoexit? Maruhn: Diese Bedenken hatte auch Staatspräsident Mattarella. Die aktuellen Töne aus Rom klingen anders. Ich glaube nicht, dass die Regierung offen europäisches Recht brechen will. Für einen Austritt aus dem Euro oder der EU gibt es in Italien auch keine Mehrheit. Gleichwohl spielt Salvini derzeit stark die nationale Karte und kündigt an, künftig in der EU Nein sagen zu wollen.

Sind vor den Kommunalwahlen am Sonntag harte Abschiebemaßnahmen zu erwarten, mit denen Salvini bei seiner Klientel punkten könnte? Maruhn: Eindeutig. Jüngst wurde in Kalabrien ein aus Afrika stammender Gewerkschafter erschossen - und die neuen Regierungsparteien schwiegen. Dafür wurden sie allerdings hart kritisiert. Man kann nur hoffen, dass sich die Kabinettsmitglieder nach ihrer Vereidigung stärker bemühen, eine Regierung für alle Italiener zu sein.

Europa hat sich weitgehend bedeckt gehalten. Wäre ein Vorstoß der EU oder der Kanzlerin sogar kontraproduktiv? Maruhn: Die EU ist ein besonderer Verein aus entwickelten Demokratien mit hohen rechtsstaatlichen Standards. Insofern darf man die Augen nicht verschließen und muss auch mal kritisieren. Dabei ist es allerdings wichtig, sachlich zu bleiben und verletzende Töne und nationale Stereotypen zu vermeiden. Das Titelbild des Spiegel etwa - "Ciao Amore" mit dem aus Spaghetti geformten Henkersstrick hat hier für große Aufregung gesorgt. Auf beiden Seiten ist ein dickes Fell vonnöten, damit künftige Verhandlungen glücken können.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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