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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zum 95. Geburtstag von Helmut Schmidt: "Der Lotse geht noch nicht von Bord" von Reinhold Willfurth

Regensburg (ots)

Mit diesem Gegenkandidaten hätte Angela Merkel wohl um ihre Wiederwahl fürchten müssen. Sie hätte es ja auch mit dem beliebtesten Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte zu tun gehabt. Fraglich ist nur, ob die SPD einen Kandidaten aufgestellt hätte, der als Verfechter der Atomenergie gilt, die Macht der Gewerkschaften einschränken will, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit als unumgänglich sieht oder die multikulturelle Gesellschaft als "Illusion von Intellektuellen" brandmarkt. Dies alles und noch viel mehr unverzeihliche Dinge wie Dauerqualmen in der Öffentlichkeit und regelmäßige Anfälle von Arroganz verzeihen Sozialdemokraten wie überhaupt fast alle Deutschen dem Menschen gerne - vorausgesetzt, er heißt Helmut Schmidt. Seit 31 Jahren ist der Altkanzler "außer Dienst", wie er seine Autobiografie selbstironisch genannt hat. Das stimmt natürlich nur halbwegs, denn 1982 hat Schmidt ja nur seine Macht als Bundeskanzler an Helmut Kohl abgeben müssen. Seit dieser Zeit ist sein Einfluss auf die bundesdeutsche Gesellschaft aber nicht sehr viel kleiner geworden. Manche meinen sogar, er habe heute mehr zu melden als in seiner Kanzlerzeit, als er sich nicht nur mit Attacken der Union auseinandersetzen, sondern auch Schläge von der eigenen Partei einstecken musste. Schmidt lässt die Welt nicht nur wissen, dass sie es mit einem Weltökonomen von Rang zu tun hat. Er ist auch als moralische Autorität unangreifbar geworden. Man hört auf ihn, wenn er, wie vergangene Woche, die Waffenexporte der deutschen Indus-trie anprangert. Helmut Schmidt ist zum Übervater der Deutschen geworden. Kaum jemand kann es sich leisten, den Alten nicht zu mögen. Damit hat Schmidt geschafft, was Willy Brandt verwehrt geblieben ist, von Kanzlern wie Kurt-Georg Kiesinger oder Ludwig Erhard ganz zu schweigen. Das liegt vor allem daran, dass Schmidt sich nie an seiner Macht berauscht hat, sondern mit preußischer Disziplin (und Härte) versucht hat, Probleme für sein Land zu lösen. Davon gab es genug in Schmidts Amtszeit. Die schlimmste Prüfung für ihn war die Schleyer-Entführung im deutschen Herbst 1977. Den Tod Schleyers konnte er nicht verhindern, was ihm bis heute zu schaffen macht. Umso wichtiger war für ihn das Zeichen der Versöhnung, das ihm in diesem Jahr mit dem Hanns-Martin-Schleyer-Preis zuteil wurde. Doch ob es nun die Hamburger Sturmflut von 1962 war, die bleierne Zeit mit dem Terrorismus der RAF oder der umstrittene Nato-Doppelbeschluss 1979 - Helmut Schmidt überzeugte auch seine Gegner als integrer Krisenmanager, der sich seine Entscheidungen nicht leicht machte und sich stets treu blieb, mochten ihm Union und Jusos noch so sehr am Zeug flicken. Natürlich konnte Schmidt auch kräftig austeilen - wen die "Schmidtschnauze" attackierte, der hatte nichts zu lachen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Schmidt ist so frei und mischt sich im hohen Alter noch in die Tagespolitik ein, spricht hier der Bundeskanzlerin finanzpolitisches Grundwissen ab, macht sich dort Gedanken über die europäische Flüchtlingspolitik, gerne in gewohnt abkanzelndem Ton. Man nimmt ihn gerne in Kauf. Moralische Autorität, wie sie Schmidt verkörpert, ist in der etablierten Politik dünn gesät. Heute feiert Helmut Schmidt in geistiger Frische seinen 95. Geburtstag. Möge er uns noch lange auf die Nerven gehen.

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