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Der Zocker vom Bosporus
Wie die EU den Erpressungsversuch von Erdogan kontern sollte
Leitartikel von Michael Backfisch

Berlin (ots)

Der Nato-Gipfel in Litauen beginnt mit einem Knalleffekt der besonderen Art: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verknüpft sein Ja zur Mitgliedschaft Schwedens im Bündnis mit der Wiederaufnahme der Gespräche über den EU-Beitritt der Türkei. Das ist blanke Erpressung und an Dreistigkeit kaum zu toppen.

Der Staatenverbund, der eine durch demokratische Werte unterfütterte Gemeinschaft ist, darf sich das nicht bieten lassen. Die Türkei war 1999 unter völlig anderen Bedingungen zum EU-Beitrittskandidaten ernannt worden. Nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 mit Massenverhaftungen und einer Kette von Menschrechtsverletzungen lag der Prozess zu Recht auf Eis.

Erdogan erweist sich mit seinem zynischen Überraschungscoup als Zocker vom Bosporus. Er hat das Instrument der Erpressung mit machiavellistischer Gerissenheit entwickelt. Systematisch hat er seinen Preis erhöht, um Zugeständnisse für Schwedens Weg in die Nato zu ergattern. Zuerst forderte Erdogan von Stockholm einen strammeren Kurs gegen Anhänger der verbotenen PKK und der Gülen-Bewegung. Als Schweden seine Anti-Terror-Gesetze verschärfte, hieß es aus Ankara: zu wenig. Seit geraumer Zeit verlangt die Türkei von den USA die Lieferung von modernen F-16-Kampfjets. Als Präsident Joe Biden sein Ja für den Fall einer positiven Schweden-Entscheidung signalisierte, blaffte Erdogan: Die Frage der Flugzeuge dürfe nicht mit dem Schweden-Thema vermengt werden. Und nun verknüpft er den EU-Beitritt mit dem Komplex Schweden/Nato. Es ist Gutsherren-Logik, die Bedingungen nach eigenem Gusto definiert.

Warum Erdogan den EU-Vorstoß jetzt macht, liegt auf der Hand. Sein Land befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Türkei braucht dringend westliche Investoren, um die Konjunktur wieder auf Trab zu bringen. Die Mitgliedschaft in der EU wäre ein ökonomisches Gütesiegel.

Erdogan ging taktisch vor. Im Ukraine-Krieg hat er Schritt für Schritt an seinem Nimbus als großer internationaler Spieler gefeilt. Dieses Gewicht versucht er einzusetzen, um durch Erpressung Gewinne zu erzielen. Kein Staatschef hat einen gleich engen Draht nach Kiew und Moskau wie Erdogan. Er liefert Drohnen und wohl bald auch Panzerhaubitzen an die Ukraine. Das Land habe die Nato-Mitgliedschaft verdient, sagte er jüngst. Beides dürf­te ihm im Westen Pluspunkte gebracht haben. Das Gleiche gilt für Erdogans Vermittlerrolle beim Getreideabkommen sowie beim Gefangenenaustausch zwischen den Kriegsparteien.

Doch Erdogan ist kein diplomatischer Zauberkünstler. Er hat das Über-Bande-Spielen perfektioniert - als größter Schaukelpolitiker unserer Zeit. In Moskau dient er sich als De-facto-Bündnispartner an. Er hat den russischen Angriffskrieg nie verurteilt und trägt die westlichen Sanktionen nicht mit. Im Gegenteil: Viele Waren, die die Türkei importiert, werden nach Russland oder in russlandfreundliche Drittstaaten wie Kasachstan reexportiert.

Die EU und Nato dürfen unter keinen Umständen auf Erdogans Erpressung eingehen. Aber anstatt in Empörungsgeheul zu verfallen, sollte man den Muskelspieler von Ankara mit realpolitischen Mitteln kontern. Brüssel könnte sagen: Nach der Nato-Mitgliedschaft Schwedens - sie hat die höchste Priorität - setzt man die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei fort. Dabei vergeht viel Zeit, da in puncto Rechtsstaatlichkeit viele Bedingungen zu erfüllen sind. Das Ergebnis ist offen. Die EU säße dann im Fahrersitz, nicht Erdogan.

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Telefon: 030/887277 - 878
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