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Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)

Studie: EU-Beitritt der Ukraine ist machbar

Wien (ots)

Ukraine ökonomisch kein Sonderfall; Aufholprozess nach Vorbild Ostmitteleuropas möglich; IT und Landwirtschaft mit Potenzial; Demografie, Korruption und Rechtsstaatlichkeit problematisch

Würde die EU einen Beitritt der Ukraine wirtschaftlich verkraften und könnte sie das Land tatsächlich integrieren? Diese Fragen werden nicht erst seit der Empfehlung der EU-Kommission für Beitrittsverhandlungen mit Kiew kontrovers diskutiert. Spätestens seitdem die Ukraine 2022 Kandidatin für eine Mitgliedschaft geworden ist, entspinnt sich eine hitzige Debatte darüber, ob ein so großes, armes, korruptes Land mit einem so riesigen Agrarsektor überhaupt EU-Mitglied werden kann, ohne die Union zu überfordern. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und die Bertelsmann Stiftung haben sich daher in einer neuen Studie angesehen, wie die Wirtschaft der Ukraine im Vergleich zu den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas bei ihrem Beitritt in den Jahren 2004 bis 2013 sowie den heutigen Kandidatenländern dasteht.

Fazit: Die Ukraine ist gemessen an den ökonomischen Beitrittskriterien im Großen und Ganzen kein Sonderfall und sollte wie die elf Staaten, die zwischen 2004 und 2013 EU-Mitglied wurden, erfolgreich integriert werden können. „Voraussetzung dafür ist aber der notwendige politische Wille in den EU-Hauptstädten, das in der Ukraine vorhandene Potential auch zu heben“, sagt Miriam Kosmehl, Senior Expert Eastern Europe und EU Neighbourhood der Bertelsmann Stiftung. Allerdings existieren große Herausforderungen. Dazu zählen der enorme Bevölkerungsverlust durch den Krieg, die nach wie vor verbreitete Korruption, der schwache Rechtsstaat, die niedrige Produktivität der Wirtschaft oder die geringe Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen.

Volkswirtschaftlich dürfte die Ukraine die EU kaum überfordern. Würde das Land heute beitreten, würde sich die Wirtschaftsleistung der Union um 1% und ihre Bevölkerungszahl um 9% vergrößern – ein ähnlicher Effekt wie beim EU-Beitritt von Polen 2004. In den Jahren vor dem russischen Überfall wuchs das BIP der Ukraine zwischen 2000 und 2008 und 2010 und 2013 sowie 2016 und 2019 schneller als jenes der EU. „Das deutet darauf hin, dass die Ukraine die Fähigkeiten hat, nach Ende des Krieges ähnlich rasch aufzuholen, wie seinerzeit die neuen Mitglieder im Osten, vor allem wenn sie einen vertieften Zugang zum gemeinsamen Markt und Geld aus den Brüsseler Finanztöpfen erhält“, betont Richard Grieveson, stellvertretender Direktor des wiiw und Co-Autor der Studie. „Eine glaubwürdige EU-Beitrittsperspektive, die das Land bis vor kurzem noch nicht hatte, wird diesem wirtschaftlichen Aufholprozess sehr helfen“, so Grieveson. Die Wirtschaftsstruktur der Ukraine ähnelt heute stark jener Rumäniens vor dessen Aufnahme in die EU und wird stark von Landwirtschaft und Bergbau geprägt, während die Industrie eine etwas kleinere Rolle spielt.

IT-Sektor und Landwirtschaft mit Potenzial

Makroökonomisch war das Land vor dem Krieg relativ stabil, auch wenn die Inflation traditionell höher lag als bei anderen Beitrittskandidaten und es immer wieder großen Abwärtsdruck auf die Währung gab. Einige Bereiche der ukrainischen Wirtschaft wie der IT-Sektor, die Metallindustrie, die Rüstungsindustrie und vor allem die Landwirtschaft sind bereits äußerst wettbewerbsfähig und verfügen über großes Potenzial. „Die Ängste, dass der ukrainische Agrarsektor zum Fass ohne Boden für das EU-Budget werden könnte, sind unbegründet. Vielmehr produziert die ukrainische Landwirtschaft dank fruchtbarer Schwarzerdeböden und billiger Arbeitskräfte so effizient, dass sie eine ernsthafte Konkurrenz für viele EU-Staaten darstellt, wie der Streit um ukrainische Getreideexporte nach Polen und Ungarn zeigt“, so Grieveson.

Bevölkerungsschwund gefährdet Wiederaufbau

Neben vielen Lichtblicken gibt es aber auch Schattenseiten. Am schwersten wiegt der große Bevölkerungsverlust durch den Krieg, vor allem durch geflüchtete Menschen. Unabhängig davon, wie lange er dauert, und ob es zu einer weiteren militärischen Eskalation kommt oder nicht, dürfte sich die Ukraine demografisch nie mehr von den Folgen des Krieges erholen, wie eine andere Studie des wiiw mit der Bertelsmann Stiftung gezeigt hat. Auch im Jahr 2040 wird sie mit rund 35 Millionen Einwohner:innen etwa 20% weniger haben als vor dem Krieg (2021: 42,8 Millionen). Der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter dürfte dabei am stärksten und folgenreichsten sein. Die fehlenden Arbeitskräfte werden ein großes Problem für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung darstellen. „Flexible Arbeitsmodelle sind noch wichtiger geworden. Eine gemeinsame EU-Ukraine-Strategie könnte zirkuläre Migrationsprogramme vorantreiben und Anreize für EU-Unternehmen schaffen, Ukrainer:innen mittels ‚virtueller Mobilität‘ zu beschäftigen“, so Kosmehl.

Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit

Die zweite große Hürde ist die nach wie vor grassierende Korruption in Verbindung mit einem immer noch schwachen Rechtsstaat, trotz gezielter Antikorruptionsreformen in den vergangenen Jahren. Die Ukraine ist derzeit noch von den institutionellen Standards der EU-Mitgliedsstaaten Ostmitteleuropas zum Zeitpunkt ihres Beitritts entfernt und in etwa vergleichbar mit Bulgarien und Rumänien, als diese in den 1990er-Jahren ihr Beitrittsgesuch stellten. Um das – zugegebenermaßen niedrige – institutionelle Niveau dieser beiden Staaten bei ihrem EU-Beitritt 2007 zu erreichen (Rumänien und Bulgarien werden bei der Rechtsstaatlichkeit bis heute von der EU-Kommission überwacht), muss die Ukraine noch Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung machen und vor allem ihre ordentlichen Gerichtsbarkeiten und Strafverfolgungsorgane nachhaltig reformieren. In ihrem jüngsten Bericht betont die EU-Kommission allerdings, dass die Ukraine auch während des Krieges große Fortschritte in diesen Bereichen gemacht hat. „Legt man das Reformtempo früherer Beitrittsländer zugrunde, würde die Ukraine in etwa zehn Jahren institutionell für den EU-Beitritt bereit sein“, präzisiert Miriam Kosmehl. „Allerdings lassen die starke ukrainische Zivilgesellschaft und die aktive Experten-Community, der in der Gesellschaft verbreitete Beitrittswille und der inzwischen proaktive Ansatz der Geberländer, etwa mittels der G7-Botschafter:innen, auf ein schnelleres Vorankommen hoffen“, so Kosmehl.

Fehlende Direktinvestitionen

Ein großes Problem, das auch mit der mangelnden Rechtsstaatlichkeit und weit verbreiteten Korruption verknüpft ist, stellt für die Ukraine ihre traditionell geringe Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen dar. Bei keinem anderen Beitrittskandidaten war oder ist ihr Bestand so gering wie in der Ukraine. Allerdings ist das auch das Ergebnis der bis 2022 fehlenden Beitrittsperspektive für das Land. Die viel zu geringen Direktinvestitionen liegen aber auch an einer niedrigen Produktivität aufgrund eines mangelhaften Berufsausbildungssystems, geringer Investitionen in Forschung und Entwicklung und einer äußerst schlechten Infrastruktur. Dazu kommt die prekäre Sicherheitslage, die auch nach dem Krieg anhalten dürfte.

Vorbild Ostmitteleuropa

„Ausländische Direktinvestitionen nach dem Vorbild der EU-Mitgliedstaaten in Ostmitteleuropa sind für das Land aber unverzichtbar, auch wenn die Ukraine hier eigene Wege beschreiten und vor allem die Chancen der grünen und digitalen Wende nutzen sollte“, erklärt Richard Grieveson. Eine bloße Nachahmung des Erfolgsmodells der Ostmitteleuropäer, über günstige Lohnkosten als „verlängerte Werkbank“ westlicher Industriekonzerne zu fungieren – Stichwort Autoindustrie – erscheint ihm wenig sinnvoll. Einerseits, weil dieses Modell zunehmend an seine Grenzen stößt, und andererseits, weil auch der Wettbewerbsvorteil bei den Löhnen (aktuell etwa 14% des deutschen Niveaus) für die Ukraine geringer ausfällt als bei anderen Staaten Ostmitteleuropas zum Zeitpunkt ihres EU-Beitritts. Grundsätzlich verfügt die Ukraine aber über ähnlich gute Voraussetzungen für einen ökonomischen Aufholprozess, wie er in den EU-Mitgliedern Ostmitteleuropas stattgefunden hat. Dazu zählen niedrige Löhne, eine im Allgemeinen gut ausgebildete Bevölkerung, technologisches Potenzial, eine starke industrielle Basis und die geografische Nähe zu den industriellen Kernländern Mitteleuropas.

Sicherheit entscheidend

Um den EU-Beitritt der Ukraine und ihre wirtschaftliche Entwicklung voran zu bringen, empfehlen die Studienautor:innen eine Reihe von Maßnahmen. Zentral sind für sie dabei glaubhafte militärische Sicherheitsgarantien für das Land nach dem Ende des Krieges. „Nur so wird es gelingen, zumindest einen Teil der Geflüchteten zur Rückkehr zu bewegen. Gerade neue Investoren werden sich nur dann auf die Ukraine einlassen, wenn sie sich darauf verlassen können, von Angriffen verschont zu bleiben“, sagt Miriam Kosmehl.

Der EU wird empfohlen, ausländischen Investoren in der Ukraine eine Versicherung gegen Kriegsrisiken anzubieten, um den Zufluss privaten Kapital bereits vor Kriegsende und unmittelbar danach zu gewährleisten. Brüssel sollte dem Land auch dabei helfen, eine maßgeschneiderte Industriepolitik zur Förderung vorhandener industrieller Stärken zu entwickeln, etwa in den Bereichen IT, Landwirtschaft, bei erneuerbaren Energien oder im Verteidigungssektor. Die Vertiefung der Handelsbeziehungen und eine Verbesserung des ukrainischen Zugangs zum EU-Binnenmarkt werden ebenfalls angemahnt.

Die Studie „Outlier or not? The Ukrainian economy’s preparedness for EU accession“ wurde vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und der Bertelsmann Stiftung erarbeitet und steht hier zum Download zur Verfügung.

Pressekontakt:

Andreas Knapp
Communications Manager
Tel. +43 680 13 42 785
knapp@wiiw.ac.at

Original-Content von: Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), übermittelt durch news aktuell

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