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Jüdische Soziale Arbeit als Kulturproduktion

Jüdische Soziale Arbeit als Kulturproduktion
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Soziale Arbeit ist für jüdische Gemeinden nicht bloße Sozial- und Gesundheitsversorgung, sondern auch ein wichtiger Faktor für die Gestaltung jüdischer Kultur und Identitäten. HM-Professor Gerd Stecklina und sein Team erforschen in einem DFG-Projekt, wie jüdische Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter durch und in Sozialer Arbeit jüdisches Kulturerbe produzieren.

München, 16. Dezember 2025 – Wie andere Träger der freien Wohlfahrtspflege übernimmt die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST) die Sozial- und Gesundheitsversorgung von Bedürftigen aus jüdischen Gemeinden und anderen Klientinnen und Klienten in Deutschland. Viele ihrer Mitarbeitenden sind aus der ehemaligen Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten migriert. HM-Professor Gerd Stecklina untersucht zusammen mit dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Norman Böttcher und seinem Team im Teilprojekt „Jüdische Soziale Arbeit in Deutschland nach 1945“ des DFG-Projekts „Jüdisches Kulturerbe“, wie ZWST-Sozialarbeitende in ihrer professionellen Praxis mit ihren Klientinnen und Klienten jüdische Kultur und Identitäten produzieren.

Soziale Arbeit als Prozess kulturellen Erbes

Die HM-Forschung versteht jüdische Kultur nicht als historische Artefakte, sondern als „dynamische, konflikthafte soziale Praxis“, die im Alltag entsteht. Untersucht werden daher die beruflichen Biografien und Erfahrungen der ZWST-Mitarbeitenden: ihre Wege in die Soziale Arbeit, ihre fachlichen Selbstverständnisse und die Frage, wie sie in ihrer Praxis jüdische Kultur mitformen und weitergeben.

Datenmaterial: Gruppendiskussionen und Kongress

Grundlage sind zwei Gruppendiskussionen mit insgesamt zehn Sozialarbeitenden, überwiegend aus postsowjetischen Staaten, die aufgrund nicht anerkannter Berufsabschlüsse als Quereinsteigende in jüdische Gemeinden kamen. Teil der Auswertung sind auch die intensiven und produktiven Debatten der Konferenz „Jüdische Wohlfahrtspflege gestern und heute“, die historische Forschung und aktuelle Praxis zusammenführte und zentrale Konfliktfelder sichtbar machte.

Sozialarbeitende verstehen sich als Vermittelnde jüdischer Kultur

Die Auswertung der qualitativen Daten gibt Aufschluss über die Konfliktlinien der Sozialarbeitenden u. a. in Bezug auf ihr Rollenverständnis als Vermittlerinnen und Vermittler jüdischer Kultur. Mit ihrer Tätigkeit direkt in den Gemeinden agieren sie an einer Schnittstelle ethnischer, kultureller und linguistischer Dimensionen jüdischer Kultur und produzieren diese selbst in der sozialen Alltagspraxis mit ihren Klientinnen und Klienten.

Wechselseitige Produktion jüdischer Identitäten

Die eigene und die von den Mitarbeitenden weitergegebene jüdische Identität ist maßgeblich durch die religiösen Traditionen mit ihren Riten, Bräuchen, Ge- und Verboten geprägt. Ebenso prägend für die jüdische Identität sind die (jahrhundertealten) Faktoren Ausgrenzung, Vertreibung, Migration und Antisemitismus. Die sozialarbeiterische Bearbeitung des von außen zu „Jüdinnen- und Juden-gemacht-Werdens“ zählt genauso in diese Konfliktdimension wie jene von Gewalt- und Unsicherheitserfahrungen, die seit dem 7. Oktober 2023 von Jüdinnen und Juden individuell und kollektiv erfahren werden.

Doppelte Desintegration der Sozialarbeitenden in Deutschland

Eine entscheidende Rolle für jüdische Sozialarbeitende spielt auch die so genannte „Nichtidentifikation“: sowohl mit ihren alten Herkunftsländern (insbesondere der ehemaligen Sowjetunion), wo jüdisch-kulturelles Leben nur unter erschwerten Bedingungen möglich war, als auch mit Deutschland als Migrationsland. Soziale Isolation, Ausgrenzungserfahrungen und erneuter Antisemitismus führen dazu, dass die jüdischen Sozialarbeitenden eine „doppelte Desintegration“ zu bearbeiten haben. Auch community-interne Schwierigkeiten, wie etwa Sprachbarrieren aufgrund von Multiethnizität, die geringe Mitgliederanteil vieler kleiner jüdischer Gemeinden und Probleme bei der Nachwuchsgewinnung aus der jüdischen Gemeinschaft heraus, stellen spezifische Konfliktlinien jüdischer Sozialer Arbeit dar.

Perspektiven für jüdische Soziale Arbeit

Die Forschung des HM-Teams in Kooperation mit der ZWST soll auch Handlungsmöglichkeiten eröffnen, Sozialer Arbeit innerhalb des Diskurses um jüdisches Kulturerbe größere Bedeutung zukommen zu lassen sowie ihr sozialpolitisch mehr Anerkennung zu verschaffen. Die Forschung soll die Bedeutung Sozialer Arbeit im Diskurs um jüdisches Kulturerbe stärken. Im Konzept der „Zedaka“ verankert, ist Wohltätigkeit zugleich religiöse Pflicht und sozialethische Grundlage jüdischer Gemeinschaft. Sie sichert bis heute jüdische Existenz unter Bedingungen von Migration, Ausgrenzung und Antisemitismus.

Gerne vermitteln wir einen Interviewtermin mit Prof. Dr. Gerd Stecklina.

Kontakt: Christiane Taddigs-Hirsch unter T 089 1265-1911 oder per Mail.

Jüdische Soziale Arbeit in Deutschland nach 1945

Das Projekt „Jüdische Soziale Arbeit in Deutschland nach 1945: Von den Anfängen bis zur Gegenwart – Spurensuche und Diskursanalyseist ein Teilprojekt des DFG-Forschungsprojekts SPP „Jüdisches Kulturerbe“ mit der Fördernummer 2357. Beteiligt waren neben der Projektleitung Prof. Dr. Gerd Stecklina der wissenschaftliche Mitarbeiter Norman Böttcher. Das Projekt läuft von Januar 2023 bis Ende 2025. Das Teilprojekt ist eine Kooperation der HM mit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) als Teil der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ist beendet.

Publikation

Böttcher, Norman; Polchert, Sina; Stecklina, Gerd (2026): Overheard Voices in Polyphony: Is Jewish Social Work An Important Factor of Jewish Cultural Heritage!? In: Kellner, Tom; Ross, Sarah (Hrsg.): Jewish Heritage in Light of Critical Heritage Studies. Oldenbourg: De Gruyter. (im Erscheinen)

Böttcher, Norman; Polchert, Sina; Stecklina, Gerd (Hrsg.) (2026): Jüdische Soziale Arbeit im Wandel der Zeit. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. (im Erscheinen)

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Die  Hochschule München ist mit über 500 Professorinnen und Professoren, 820 Lehrbeauftragten und über 18.500 Studierenden eine der größten Hochschulen für angewandte Wissenschaften Deutschlands. In den Bereichen Technik, Wirtschaft, Soziales und Design bietet sie rund 100 Bachelor- und Masterstudiengänge an. Exzellent vernetzt am Wirtschaftsstandort München, arbeitet sie eng mit Unternehmen und Institutionen zusammen und engagiert sich in praxisnaher Lehre und anwendungsorientierter Forschung. Die HM belegt im Gründungsradar des Stifterverbands deutschlandweit erneut den ersten Platz unter den großen Hochschulen und Universitäten. Neben Fachkompetenzen vermittelt sie ihren Studierenden unternehmerisches und nachhaltiges Denken und Handeln. Ausgebildet im interdisziplinären Arbeiten und interkulturellen Denken gestalten ihre Absolventinnen und Absolventen eine digital und international vernetzte Arbeitswelt mit. In Rankings zählen sie bei Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern zu den Gefragtesten in ganz Deutschland.  hm.edu
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