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„Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Kampf gegen Zivilgesellschaft und Demokratie“

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„Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Kampf gegen Zivilgesellschaft und Demokratie“

Zum zweiten Jahrestag des russischen Angriffs auf das gesamte Gebiet der Ukraine spricht Osteuropahistoriker Prof. Dr. Dietmar Neutatz von der Universität Freiburg im Interview über Motive Wladimir Putins, die Rolle des Westens und schwierige Szenarien für ein Kriegsende

Herr Neutatz, welche Bilanz ziehen Sie nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine?

Die Ukraine hat es 2022 geschafft, den russischen Versuch zu vereiteln, sie handstreichartig als souveränen und unabhängigen Staat zu liquidieren. Sie hat die russischen Truppen weiträumig zurückwerfen können und ihnen große Verluste zugefügt. 2023 hat sie dann den Versuch unternommen, mit einer Gegenoffensive die russischen Truppen aus den besetzten Gebieten ganz zu verdrängen. Das ist ihr nicht gelungen – unter anderem, weil die Unterstützung durch die westlichen Länder nicht schnell genug und auch nicht in dem Ausmaß erfolgt ist, wie es notwendig gewesen wäre. Das hat den Russen Zeit gegeben, in den besetzten Gebieten ein tief gestaffeltes System von Befestigungen und Minenfeldern einzurichten. Je länger dieser Krieg dauert, desto prekärer wird die Situation der Ukraine, weil es ihr schwerer fällt als der russischen Seite, die Verluste an Menschen und an Material zu ersetzen. Die Zeit spielt für Wladimir Putin, das weiß er, darauf setzt er. Es besteht auch das Risiko, dass in den westlichen Ländern die Unterstützungsbereitschaft für die Ukraine sinkt. Die Hoffnung, durch die schmerzhafte Wirkung von Sanktionen in Russland eine Gegenbewegung zu Putins Kriegspolitik zu fördern, hat sich bisher nicht erfüllt, und es gibt auch keine Anzeichen, dass das in absehbarer Zeit der Fall sein wird.

Was hat sich in diesen zwei Jahren an der Haltung Russlands verändert?

Grundsätzlich nichts. Das Ziel der Politik Putins ist nach wie vor, die Ukraine als unabhängigen, westlich orientierten, souveränen Staat zu beseitigen. Das ist Teil des Konzepts einer imperialistischen Politik Russlands. Putin möchte als derjenige Herrscher in die Geschichte eingehen, der Russland wieder zu einer imperialen Großmacht geführt hat und der die Dominanz Russlands über die Länder, die einst zum Herrschaftsbereich der Sowjetunion gehörten, wiederhergestellt hat. Seit mehr als zehn Jahren wird die russische Bevölkerung und insbesondere die Jugend im Sinne von imperialer Expansion und Kriegsverherrlichung indoktriniert. Putin hat die russische Gesellschaft von langer Hand mental auf einen Krieg vorbereitet.

Neben diesem imperialen Motiv gibt es aber noch ein zweites, das im Westen viel zu oft übersehen wird: Dieser Krieg ist ein Kampf gegen Zivilgesellschaft und Demokratie. Durch die „Orangene Revolution“ in der Ukraine hat Putin die Angst entwickelt, dass diese Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft, die Orientierung hin auf Demokratie und den Westen, auf Russland überschwappen. Das will er mit allen Mitteln verhindern – denn sollte das der Fall sein, würde es seine Herrschaft und das diktatorische Regime, das er in den letzten 23 Jahren sukzessive aufgebaut hat, gefährden. Schon allein aus diesem Grund muss in Putins Logik die demokratische, westorientierte Ukraine zerstört werden. Da das 2022 nicht wie geplant geklappt hat und Putin sichtbare Erfolge brauchte, hat er kurzfristig umdisponiert und Teile der Ukraine annektiert. Das ist aber nur ein Zwischenziel. Das sollte allen bewusst sein, die der Ukraine raten, sie möge sich doch durch den Verzicht auf Gebiete Frieden erkaufen: Das wäre kein dauerhafter Friede.

Wie schätzen Sie das Gewicht der USA und der EU im andauernden Konflikt ein?

Die Ukraine ist auf die Unterstützung durch die USA und die Europäische Union angewiesen. Ohne diese Unterstützung könnte sie dem russischen Druck nicht lange standhalten. Allerdings hat die Ukraine bisher immer nur gerade so viel vom Westen bekommen, um die Lage stabilisieren zu können, aber nicht genug, um diesen Krieg erfolgreich zu beenden. Wenn der Westen die Ukraine so unterstützen möchte, dass sie diesen Krieg nicht verliert, dann müsste er auch sein überlegenes Wirtschaftspotenzial effizienter zum Einsatz bringen. Denn eigentlich ist die Situation paradox: Russland hat nur einen Bruchteil der Wirtschaftskraft der westlichen Industrieländer, schafft es aber trotz der Sanktionen, in der Rüstungsproduktion die Nase vorne zu haben. Der Westen müsste Russland klarmachen, dass es mit seiner völlig unterlegenen Wirtschaftskraft mittelfristig eigentlich gar keine Chance hat, diesen Krieg zu gewinnen. Aber dazu müssten im Westen eben auch entschlossenere Entscheidungen getroffen werden.

Was sind denkbare Perspektiven für die Beendigung des Krieges?

Kriege enden, wenn eine Seite kapituliert oder beide Seiten zu der Einschätzung gelangen, dass die Fortsetzung des Krieges keine Vorteile mehr bringt. Beides ist im Moment nicht abzusehen. Man kann sich verschiedene Szenarien ausdenken, wie dieser Krieg beendet werden könnte. Das Worst-Case-Szenario wäre, dass die Ukraine gezwungen ist zu kapitulieren und den russischen Forderungen nachzugeben. Das hätte unabsehbare Folgen, denn es würde Putin ja in seiner Politik bestärken. Das wäre auch gefährlich für die anderen Nachbarn Russlands, insbesondere die baltischen Länder, auch wenn sie NATO-Mitglieder sind, denn Putin könnte zu der Einschätzung kommen, dass die NATO wegen dieser kleinen Länder schon keinen großen Krieg führen oder gar einen Atomkrieg riskieren würde.

Das günstigste Szenario wäre ein militärischer Erfolg der Ukraine, der Russland dazu zwingt, sich aus den annektierten Gebieten zurückzuziehen. Das wäre für Putin eine Blamage, ein sichtbares Scheitern seiner Politik, und würde mit großer Wahrscheinlichkeit auch das Ende seiner Herrschaft bedeuten. Mit einer neuen, hoffentlich demokratisch orientierten Regierung wäre dann möglicherweise ein dauerhafter Friede möglich.

Dazwischen gibt es unterschiedliche Szenarien, die auf Kompromisse hinauslaufen. Bei all diesen Gedankenspielen muss man sich aber klar sein, dass Kompromisse in der gegenwärtigen Situation mit großer Wahrscheinlichkeit eben keine Dauerlösung wären, sondern dass nach einer Zeit des Kräftesammelns wieder Krieg losbrechen würde. Die Situation ist auch deswegen so schwierig, weil Putin ja Gebiete annektiert hat, die das russische Militär noch gar nicht kontrolliert. Das heißt, die Ukraine müsste, wenn sie auf Putins Bedingungen für Friedensverhandlungen einginge, auch auf solche Gebiete verzichten. Das wäre gegenüber der eigenen Bevölkerung kaum vertretbar nach all den Opfern, die erbracht worden sind.

Wie könnte eine stabile Ordnung nach dem Krieg aussehen?

Der Beginn dieses Krieges war eine Aggression Russlands gegen ein Nachbarland. Niemand hat Russland bedroht, kein Nachbarland hat Gebietsansprüche gegenüber Russland, sondern Russland ist ganz eindeutig der Aggressor und hat seit der Annexion der Krim eine Expansionspolitik betrieben. Daraus folgt, dass eine Friedensordnung so beschaffen sein müsste, dass die Nachbarländer Russlands dauerhaft und glaubwürdig vor künftigen potenziellen Aggressionen Russlands geschützt sind. Für die Ukraine würde das entweder die Mitgliedschaft in der NATO oder vergleichbare Sicherheitsgarantien bedeuten, die so glaubwürdig konstruiert sein müssten, dass Russland sie ernst nimmt.

Ein wirklicher dauerhafter Friede setzt aber voraus, dass Russland, insbesondere die russische Führung, sich von der imperialistischen Ideologie verabschiedet, die sie gegenwärtig verfolgt und im Volk verbreitet. Russland muss akzeptieren, dass es kein Recht auf Dominanz über diejenigen Länder hat, die bis 1991 von der Sowjetunion beherrscht worden waren. Das ist unter einer Führung Putins nicht wirklich vorstellbar, weil seine Herrschaft im Grunde seit etwa 2010 genau auf dieser Vision beruht, sondern günstigstenfalls erst, wenn eine Nachfolgeregierung wieder rechtsstaatliche und demokratische Verhältnisse hergestellt hat. Ein demokratisches Russland, das wieder zu einer friedlichen Politik zurückkehrt, müsste seinerseits so in eine Friedensordnung eingebunden werden, dass es keine revisionistischen Reflexe entwickelt, sondern sich auch selbst gut aufgehoben fühlt. Das ist eine extrem schwierige Herausforderung; ob das gelingen wird, ist fraglich. Und überhaupt muss über diesen Szenarien der Vorbehalt stehen, dass die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind. Momentan sehe ich nicht, dass dieser Krieg schnell beendet werden kann.

  • Prof. Dr. Dietmar Neutatz ist Professor für Neuere und Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Freiburg, er forscht und lehrt unter anderen zur Geschichte Russlands und der Sowjetunion vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Sozial-, Alltags- und Kulturgeschichte des Stalinismus, Konstitutionalismus und Antikonstitutionalismus im Russischen Reich, die Geschichte der Russlanddeutschen sowie Helden und Heroisierungen.

Dietmar Neutatz steht gerne für Medienanfragen zur Verfügung.

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