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DIE ZEIT

Isabelle Huppert: "Ich hadere, also bin ich"

Hamburg (ots)

Die französische Schauspielerin Isabelle Huppert hasst Menschen,
die von sich selbst als Künstler reden. "Ich fand es schon immer
merkwürdig, sich auf diese Weise zu definieren. Da schwingt ein
pseudoromantisches Selbstbild mit: der Künstler als Mensch, der ein
ganz anderes Leben führt und sich von den anderen abhebt", sagt sie
in der ZEIT. Sie selbst wäre gern Musikerin geworden: "Das wäre mein
Traum. Als Musikinterpretin kann man eine Perfektion erreichen, die
uns Schauspielern nie möglich sein wird. Aber ich gebe zu, es
entspricht meiner Sehnsucht nach dem Absoluten."
Huppert: "Auf gewisse Weise lebt man mit dem Regisseur seinen
Ödipuskomplex aus, ein durch und durch primitives Schema. Man kann
sich diesem Schema unterwerfen, sich gleichzeitig aber auch gewisse
Fluchtwege offen lassen. Wir wollen gefallen, wir begehren den
Regisseur-Vater ... Aber es gibt nur wenige Regisseure, die sich auf
dieses Spiel mit der Macht einlassen." Niemals würde die
Schauspielerin "mit einem Regisseur arbeiten, der mich auf maskuline
Projektionen festlegt. Der in mir nur die Frau und die Schauspielerin
sieht und der mir nicht diese Macht gibt. Regisseure wie Claude
Chabrol oder Michael Haneke sind stark genug, um sich in diesen
sadomasochistischen Zyklus hineinzubegeben."
Die Schauspielerin: "Ich hadere, also bin ich. Ich traue mir
nichts zu. Und gerade deshalb bin ich zu allem fähig."
Ein Gespräch mit Isabelle Huppert über die Schauspielerei als 
   Religion und ihre Rolle in Michael Hanekes neuem Film "Wolfzeit"
DIE ZEIT: Frau Huppert, weshalb hassen Sie Künstler?
Isabelle Huppert: Ich hasse nur die Menschen, die von sich selbst 
als Künstlern reden. Das habe ich damals in Cannes gesagt, als sie 
mir gerade mächtig auf die Nerven gingen.
ZEIT: Weshalb?
Huppert: Ich fand es schon immer merkwürdig, sich auf diese Weise
zu definieren. Da schwingt ein pseudoromantisches Selbstbild mit: der
Künstler als Mensch, der ein ganz anderes Leben führt und sich von
den anderen abhebt. Vor allem bei Schauspielern und Regisseuren
scheint mir das albern. In meiner Vorstellung ist ein Künstler eher
ein Maler oder ein Komponist, jedenfalls jemand, der bei dem, was er
erschafft, einsam ist. In unserem Beruf kranken diejenigen, die sich
Künstler nennen, meist an Selbstüberschätzung und Dünkel. Ohnehin
sind Menschen, die ständig von ihrer Kunst und Kreativität reden, in
den seltensten Fällen kreativ.
ZEIT: Sehen Sie Ihre Lieblingsregisseure als Künstler?
Huppert: Claude Chabrol oder Michael Haneke würden sich nie so 
bezeichnen. Chabrol würde sich darüber kaputtlachen und Haneke in 
verächtliches Schweigen verfallen.
ZEIT: Mit Chabrols Filmen sind Sie die wichtigste europäische 
   Schauspielerin Ihrer Generation geworden. Aber am meisten wagen  
   Sie inzwischen in den Filmen von Michael Haneke.
Huppert: Dabei ist es gar nicht seine Radikalität, die mich
anzieht. An der Klavierspielerin und ganz besonders an seinem neuen
Film Wolfzeit interessierte mich seine enorme Musikalität. Haneke
stellt die Musik über alles andere. Jedes Gefühl, jede Regung wird
von ihm auf die winzigste Note genau instrumentiert. Es geht ihm
nicht um angenehme, kuschelige Erlebnisse, sondern darum, dem
Zuschauer eine Erfahrung zu verschaffen. Er schüttelt ihn und greift
ihn da an, wo er am verletzlichsten ist: in seinem Zuschauerdasein.
Er attackiert den Status des reinen Betrachters.
ZEIT: Das hört sich enorm pädagogisch an.
Huppert: Ich habe nichts dagegen, wenn man sich im Kino ablenken 
lässt, für zwei Stunden eintaucht. Aber das bringt meist auch eine 
gewisse Indifferenz mit sich. Haneke hingegen fordert vom Zuschauer 
das Gegenteil von Gleichgültigkeit. Das kann bis zu einer physischen 
Zumutung gehen. Ich will das hier nicht dogmatisch verteidigen, aber 
es gehört auch zum Kino.
ZEIT: In Wolfzeit spielen Sie eine Frau, die mit ihren Kindern  
   durch ein apokalyptisches Europa wandert. Etwas Entsetzliches hat 
   stattgefunden. Es könnte ein Krieg sein, eine ökologische  
   Katastrophe oder ein terroristischer Anschlag. Die Menschen 
   kämpfen gegeneinander ums pure Überleben. Haben Sie sich je 
   ausgemalt, um welche Katastrophe es sich handeln könnte?
Huppert: Das ist ja gerade das Unglaubliche an diesem Film. Er 
inszeniert das Unfassbare, die Apokalypse. Er erwischt uns an 
unseren tiefsten Ängsten. Jeder kann sich darin wiederfinden. Dieser 
Film hat die fast archaische Form eines Märchens. Zumindest beginnt 
er wie ein Märchen: Es war einmal eine Frau, die fuhr mit ihrer 
Familie auf ihr Landhaus ...
ZEIT: ... doch dann wird der Ehemann vor den Augen der Frau und  
   der Kinder von einem wildfremden Mann erschossen. Dann erbricht 
   sich die Frau ...
Huppert: Ja, auch das kann zu einem modernen Märchen gehören. Alle
Märchen beginnen mit einem traumatischen Ereignis. Dieser Beginn hat 
fast etwas Comic-haftes. Ich kam mir vor wie eine Entenmutter, die 
mit ihren Küken in die Katastrophe watschelt.
ZEIT: In Wolfzeit ist jede gesellschaftliche Ordnung 
   zusammengebrochen. Eigentlich muss sich die Zivilisation in diesem
   Film wieder neu erfinden.
Huppert: Vor allem die Moral. Die Beziehungen, die affektiven 
Mechanismen, die Zuneigung zu den Kindern. Alles fängt in einer Art 
Gründungsmythos wieder von neuem an, auf elementare, primitive 
Weise. Haneke ist mit Sicherheit nicht spirituell in einem 
religiösen Sinne, aber es gibt eine gewisse Spiritualität in seinen 
Filmen. Das liegt mir sehr.
ZEIT: Betrachtet man Ihre Filme im Rückblick, dann hat Ihr 
   zurückhaltendes Spiel ein demütiges, fast religiöses Element. Der 
   Schmutz, die Leidenschaften und die Perversionen, durch die Sie 
   wandeln, scheinen an Ihnen abzuperlen. Manchmal könnte man an eine
   Ordensschwester denken, die der Filmkunst dient.
Huppert: Ich weiß, was Sie meinen, aber wäre mein Spiel in letzter
Instanz religiös, dann müsste es darin auch eine Form der Entsagung 
geben. Als Schauspielerin halte ich jedoch nichts von Altruismus, 
denn ich bekomme ja auch sehr viel. Es gibt da einige Kollegen, die 
diese Masche bedienen: die Darstellung als eine Form der 
Selbstaufopferung, die eigene Seele als Geschenk. Das ist fast so 
unerträglich wie das Künstlergerede. Ich sehe meinen Beruf als eine 
innere Expedition, an deren Ende man, wenn man Glück hat, den 
anderen erreicht. Spielen besteht auch aus dem Vergnügen, dem Glück, 
etwas auszudrücken. Dieses egoistische, lustvolle Element fehlt mir 
beim Vergleich zwischen Religion und Schauspielerei. Aber vielleicht 
liege ich auch ganz falsch. Vielleicht ziehen Nonnen eine ungeheure 
Lust aus ihrer Selbstaufgabe. Bei der heiligen Theresa von Avila 
hielten sich Selbstverzehrung und Lustgefühle ganz bestimmt die 
Waage. Denken Sie an die religiöse Ekstase. Das Gefühl, den 
richtigen Ausdruck gefunden zu haben, kommt bei mir durchaus einer 
Ekstase gleich.
ZEIT: Ist das die Essenz Ihres Berufes? Den richtigen Ausdruck zu 
   finden?
Huppert: Ja, die Wahrheitssuche betreibe ich ekstatisch. Bei
dieser Suche neigen Schauspieler aber im Allgemeinen dazu, sich
gnadenlos zu überschätzen. Sie stoßen nämlich keineswegs mutig in
völlig unbekannte Gefilde vor. Es ist das Kino, das uns dorthin
trägt. Oder vielmehr die Kamera. Rein technisch gesehen, ist sie ein
Gerät irgendwo zwischen einer Sonde und einem Mikroskop. Ganz
bestimmt ist es kein Zufall, dass das Kino und die Psychoanalyse
ungefähr zur gleichen Zeit entstanden. Der cinematografische Apparat
macht das Unsichtbare sichtbar, und wir werden ganz
selbstverständlich auf diese Wahrheit gestoßen. Natürlich handelt es
sich um eine vermittelte Wahrheit, keine realistische,
dokumentarische. Eine aufrichtige Konstruktion, wenn Sie so wollen.
ZEIT: Widersprechen Sie sich nicht selbst? Einerseits suchen Sie
den perfekten Ausdruck, andererseits betonen Sie immer wieder, dass
Sie den Betrachter am liebsten einladen, seine Vorstellungen in Ihr
Gesicht hineinzuprojizieren.
Huppert: In der Tat ist mein Spiel eher matt und neutral. Eine 
weiße, unbeschriebene Darstellung, in die man viel hineinlesen kann. 
Das ist für mich aber durchaus auch Ausdruck einer Wirklichkeit. Das 
Leben besteht nämlich eher aus matten, neutralen Attitüden und nicht 
aus expressiven Grimassen. Schauen Sie uns beide doch an! Ganz 
bestimmt drücken Sie nicht alles, was Sie denken, mit Ihrem Gesicht 
oder Ihrer Sprache aus. Mir scheint, dass Sie mich mögen, aber Ihre 
Sympathie springt mich nicht an. Im Kino gibt es glücklicherweise 
vergleichbare Ebenen, Schattierungen, winzige Nuancen. Auch im 
Theater ist der Kult der Sprache, des Expressiven glücklicherweise 
durch andere, mattere Ausdrucksmittel abgelöst worden. Bei einem 
Autor wie Ibsen ist das Ungesagte viel wichtiger als das Gesagte. 
Kino ist das, was man verhüllt, nicht das, was man zeigt. Wenn man 
alles um jeden Preis zeigen will, sagt man nämlich überhaupt nichts 
mehr.
ZEIT: Würden Sie sich mit Ihrem Lieblingsmusiker Alfred Brendel 
   vergleichen lassen? Er gilt als der am wenigsten spektakuläre 
   Pianist. Und ist gerade dadurch wieder spektakulär.
Huppert: Gestern habe ich mir noch einmal seine Aufnahme der 
Beethoven-Sonaten angehört. Und tatsächlich sagt uns Brendel auf 
völlig zurückhaltende Weise alles, was es zu sagen gibt. Mit welcher 
Leichtigkeit, Tongenauigkeit, Biegsamkeit und Zurückhaltung! Mit 
spektakulärem Understatement verschwindet er in der Musik. In 
Michael Hanekes Film Die Klavierspielerin gibt es eine Szene, die 
der Philosophie der musikalischen Interpretation auf wunderbare 
Weise auf die Spur kommt. Als Erika Kohut ihren späteren Schüler und 
Geliebten zum ersten Mal Klavier spielen hört, begreift sie sofort, 
dass er sie so lieben wird, wie er Schubert spielt: aufgeregt, mit 
Effekt und Verve. Sie versteht, dass seine Musik auf Verführung und 
nicht auf Liebe beruht. Sie verliebt sich augenblicklich in ihn, 
aber sie merkt in diesem Moment sehr wohl, dass sie sein Spiel, 
seine Verführung nicht mag, vielleicht sogar verachtet. Sobald sie 
ihn liebt, beginnt sie auch schon, ihn zu hassen. Nie wieder und nie 
zuvor ist die Musik für mich im Kino so sehr Sprache geworden wie in 
dieser Szene. Hätte jedoch Alfred Brendel für Erika Kohut gespielt, 
hätte sie sich ohne Einschränkung verlieben können.
ZEIT: Brendel sagt, man solle nicht die Noten, sondern ihren Sinn 
   spielen. Sie selbst machen es ähnlich. Sie spielen keine Figuren, 
   sondern deren Sinn und Seele.
Huppert: Meine Figuren sind mir tatsächlich völlig schnuppe.
Ohnehin finde ich, man sollte Schauspielschülern das Spielen am
besten über die Musik nahe bringen.
ZEIT: Wären Sie lieber Musikerin geworden?
Huppert: Das wäre mein Traum. Als Musikinterpretin kann man eine 
Perfektion erreichen, die uns Schauspielern nie möglich sein wird. 
Aber ich gebe zu, es entspricht meiner Sehnsucht nach dem Absoluten.
ZEIT: Es hat auch eine gewisse Koketterie, stets von den jeweils 
   anderen Künsten zu schwärmen.
Huppert: Na und? Ich kann noch mühelos weiterschwärmen. Von einer 
Schriftstellerin, die mich geprägt hat wie keine andere: Nathalie 
Sarraute. Sie schreibt so diskret, dass man sie meistens nicht dem 
Nouveau Roman zuordnet, obwohl sie ihn begründet hat. In ihren 
Romanen gibt es keine Figuren. Keine dieser willkürlichen Setzungen, 
die vom Eigentlichen ablenken. Sarraute beschreibt Empfindungen, 
Seelenzustände, winzige Regungen, die manchmal nicht einmal die 
Oberfläche der Psyche durchstoßen. Erst Sarraute hat mir 
klargemacht, wie entscheidend diese "Vor"-Empfindungen sind. Was 
zählt, sind für mich allein diese Gefühle und Zustände. Die Figur 
sedimentiert sich schon von ganz alleine. Das Klischee, dass ein 
Schauspieler in die Haut eines anderen Menschen schlüpft, sollte man 
meines Erachtens auf den Müll werfen, denn ich bin ich, und die 
Figur kommt wie ein Unfall.
ZEIT: Gilt das auch für Ihre Theaterrollen?
Huppert: Es mag sich etwas versponnen anhören, aber im Theater ist
der Unfall der Text. Erst gibt es einen Zustand, und dann kommt der 
Text. Man kann ihn flüstern, sprechen oder schreien, das ist dann 
nicht mehr so wichtig. Peter Zadek hat mir einmal gesagt, es sei 
nicht schlimm, wenn man nicht alles verstehe, es komme auf das an, 
was übertragen wird. Der wörtliche Sinn ist weniger wichtig als der 
Sinn, den man hineinlegt. Man sollte sich nicht einkreisen lassen 
vom exakten Text, von der Artikulation, von der immer so hoch 
gehängten "Figur". Das alles sind Dinge, von denen ich sowieso 
nichts verstehe.
ZEIT: Für Alfred Brendel sind die von ihm angebeteten Komponisten 
   wie Schubert, Beethoven oder Mozart Vaterfiguren, hinter denen man
   als Interpret verschwinden sollte. Wenn von Ihren Regisseuren die 
   Rede ist, verwenden auch Sie immer wieder das Wort Vater. Heißt  
   das, man muss beim Spielen Kind bleiben?
Huppert: Oh je, wir müssen Kind bleiben und den Vater gleichzeitig
verführen! Man sollte nicht unterschätzen, dass sich Schauspieler in 
ziemlich archaischen Strukturen bewegen. Auf gewisse Weise lebt man 
mit dem Regisseur natürlich seinen Ödipuskomplex aus, ein durch und 
durch primitives Schema. Man kann sich diesem Schema unterwerfen, 
sich gleichzeitig aber auch gewisse Fluchtwege offen lassen. Wir 
wollen gefallen, wir begehren den Regisseur-Vater. Wir sind wie 
kleine Kinder, die der Autorität unterworfen sind, aber wir bestehen 
auch darauf, dass wir auf der Welt sind, dass wir existieren. Wir 
wollen unserem Papa sagen, wer wir sind. (lacht)
ZEIT: Das hört sich auch nach einem gewissen Sadomasochismus an.
Huppert: Ganz bestimmt. Aber es gibt nur wenige Regisseure, die
sich auf dieses Spiel mit der Macht einlassen. Ich würde niemals mit
einem Regisseur arbeiten, der mich auf maskuline Projektionen
festlegt. Der in mir nur die Frau und die Schauspielerin sieht und
der mir nicht diese Macht gibt. Regisseure wie Claude Chabrol oder
Michael Haneke sind stark genug, um sich in diesen
sadomasochistischen Zyklus hineinzubegeben.
ZEIT: In Die Klavierspielerin waren diese Machtspiele in einer 
   Peep-Show-Szene besonders deutlich. Da gehen Sie in eine Kabine, 
   ziehen das spermabefleckte Taschentuch aus dem Papierkorb und  
   halten es an Ihre Nase. Ihren Trenchcoat tragen Sie dabei wie eine
   Ritterrüstung.
Huppert: Nie war ich zugleich so stark und so klein wie in dieser 
Szene. Haneke gab mir die Macht, mich zu erniedrigen, Abstoßendes 
mit der allergrößten Unnahbarkeit zu spielen. Wir sehen eine Frau, 
die der männlichen Dominanz eine weibliche entgegensetzt und die 
sich doch der gleichen Waffen wie die Männer bedient. Und zwar aus 
Angst. Angst zu lieben und geliebt zu werden. Diese Frau ist nun 
wirklich völlig jenseits aller banalen Schemata von Dominanz und 
Unterwerfung. Ganz ähnlich ist mein Verhältnis zu den Regisseuren. 
Es ist ein sadomasochistisches Spiel, das ständig in Bewegung ist. 
Es geht um wechselnde Abhängigkeiten, nicht einfach nur um plumpe 
Macht.
ZEIT: Ist der Zuschauer Teil dieses Spiels? Sie ziehen seinen  
   Blick auf sich. Kann dieser Blick auch zur Bedrohung werden?
Huppert: Und wie! Aber dabei geht es nicht um den realen Blick,
der auf meine Erscheinung trifft. Die Leute haben von jedem
Filmschauspieler eine Summe an Bildern im Kopf. Und natürlich
entwickeln diese Bilder ein ungeheures Gewicht. Manchmal komme ich
mir vor wie auf einer Wippe. Auf der einen Seite bin ich, die
plötzlich nur noch drei Kilo wiegt, und auf der anderen Seite diese
Bilder mit ihrem drückenden Gewicht. Mir gegenüber wirft sich ein
unvorstellbar fetter Mensch auf die Wippe, und ich werde an die Decke
geschleudert. Glauben Sie mir, das ist keine Koketterie.
ZEIT: Andererseits haben Sie Ihre Filme und Ihre Karriere gerade  
   als ungeheures Gewicht bezeichnet. Das ist ja nicht ganz  
   unbescheiden.
Huppert: Dieses Gewicht bin nicht ich. Es ist das Gewicht der 
Rollen, der Bilder, der Arbeit und der Jahre, die sich auftürmen. 
Normalerweise schleppe ich das nicht alles mit mir herum. Ich bin 
eine kleine nervöse Seele, die sich jeden Tag fragt, was sie als 
Nächstes macht. Es wäre ja auch eine Schande, sich ständig 
klarzumachen, wer man ist, was man repräsentiert und erreicht hat. 
Aber der Blick der anderen macht es einem wieder bewusst.
ZEIT: Wahrscheinlich sind es solche Äußerungen, die Claude Chabrol
   verleiten, Sie unablässig auf den Arm zu nehmen. Er sagt, Sie 
   brauchten das. Sie seien zu ernst.
Huppert: Wenn Chabrol hier wäre, dann würde er mich auslachen. Er 
sagt, ich sei viel einfacher gestrickt, als ich vorgebe zu sein. Er 
macht Witze über meine so genannte Intellektualität. Aber ich 
glaube, damit will er nur über sein eigenes kompliziertes Wesen 
hinwegtäuschen. Also stichelt er ständig über mein kompliziertes 
Wesen. Natürlich weiß er auch, dass ich ein überdimensionales Ego 
habe. Also behauptet er selbst im Gegenzug, er habe kein Ego. Das 
stimmt aber nur im flaubertschen Sinne: Der Autor existiert nicht, 
er ist unsichtbar. Nur: Um sein Ego derart zum Verschwinden zu 
bringen und Flaubert zu werden, braucht man selbstverständlich ein 
enormes, ein riesiges Ego. Tja, und über solche Dinge streiten 
Chabrol und ich ganze Abende.
ZEIT: Ihr Selbstbewusstsein scheint sich auf Ihr angebliches 
   Riesenego aber nicht verlassen zu können. Ein Moment, in dem Sie 
   sehr viel erreicht haben, war die Verleihung der Goldenen 
   Darstellerpalme in Cannes für Die Klavierspielerin. Aber auch da 
   wirkten Sie verlegen und schienen sich unter der Last der Blicke 
   nicht wohlzufühlen. Hören Sie nie auf, an sich zu zweifeln?
Huppert: Ich würde gerne damit aufhören, ganz ehrlich. Es ist 
manchmal sehr ermüdend, fast neurotisch. Manchmal will ich alles 
hinwerfen, einen anderen Beruf suchen, mit einem einfacheren 
Verhältnis zur Welt. Vielleicht passiert es ja auch.
ZEIT: Gibt es irgendetwas, womit Sie vorbehaltlos zufrieden sind?
Huppert: Ja, doch, meine drei Kinder. Ich freue mich, dass sie da 
sind, dass es sie gibt. Aber ich will mich um Gottes willen nicht 
beklagen. Wer könnte sich über ein derart komfortables Leben und so 
viele Privilegien beschweren? Es geht eher um ein metaphysisches 
Gefühl des Versagens. Ein Unbefriedigtsein. Sobald man zufrieden, 
fett und selbstgerecht ist, ist man wahrscheinlich auch kein 
Künstler mehr, um dieses abscheuliche Wort auch einmal zu benutzen. 
Ein paar Schuldgefühle, ein bisschen Paranoia und ein paar 
prachtvolle Komplexe können sicher nichts schaden. Ich hadere, also 
bin ich. Ich traue mir nichts zu. Und gerade deshalb bin ich zu 
allem fähig.
Das Gespräch führte Katja Nicodemus
Es folgt eine PRESSE-Vorabmeldung der ZEIT Nr. 1 mit  
   Erstverkaufstag am Montag, 22. Dezember 2003
Das komplette ZEIT-Interview der nachfolgenden Meldung finden Sie 
   im Anhang.
Für Rückfragen melden Sie sich bitte bei Elke Bunse, DIE 
ZEIT Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, (Tel.: 040/ 3280-217, Fax: 
040/ 3280-558, E-Mail:  bunse@zeit.de)

Original-Content von: DIE ZEIT, übermittelt durch news aktuell

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