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Weser-Kurier

Weser-Kurier: Der "Weser-Kurier" (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 1. September 2010 die Debatte über Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab":

Bremen (ots)

Die Quittung des Provokateurs

von Joerg Helge Wagner Eines kann man Thilo Sarrazin nicht vorwerfen: Dass er mit Karacho an der Stimmung im Lande vorbeischreibe. Dabei ist der Mann eher das Gegenteil von einem Populisten: Der Bundesbanker ist keiner, der Volkes Nähe sucht und in Bierzelten um Applaus ringt - kühl bis arrogant im Auftreten, verteidigt er seine Thesen in Talkshows und Feuilletons mit der Distanziertheit eines Bürokraten. Sarrazin hantiert nicht mit aus dem Zusammenhang gerissenen Koran-Zitaten oder Versatzstücken islamistischer Propaganda - er lässt vor allem Statistiken sprechen. Und da er als früherer Finanzsenator und heutiger Bundesbank-Vorstand ein ausgewiesener Zahlenmensch ist, glauben ihm viele: Allein in den Internet-Foren liegt die Zustimmungsrate von Boulevard bis Bürgertum zwischen 60 und 80 Prozent. Und sehr viele Menschen sind bereit, 23 Euro in 463 Seiten zu investieren - in der Hoffnung auf reichlich Erkenntnisgewinn. Oder ist es bloß eine morbide Lust am eigenen Untergang, die ausgerechnet ein Buch mit dem düsteren Titel "Deutschland schafft sich ab" zum Bestseller macht? Mit Sicherheit ist es die Quittung für eine Zuwanderungsdebatte, die erst lange verpennt und dann verlogen geführt worden ist. Verpennt haben sie vor allem die Konservativen, die sich lange weigerten, Deutschland als Einwanderungsland zu betrachten. Verlogen ist eher von der Linken debattiert worden: Einerseits wollte man so gerne multi-kulturelles Einwanderungsland sein, andererseits wollte man sich nicht den harten Herausforderungen und Entscheidungen, die das erfordert, stellen. Jeder war willkommen, auch wenn er keinerlei Qualifikation mitbrachte und Deutschland ihm absehbar nur eine Existenz als Bezieher von staatlichen Transferleistungen bieten konnte. Anforderungsprofile und Auswahlkriterien? Igitt, das erinnerte ja an braune Menschen-Selektion - selbst wenn gefestigte Demokratien wie Kanada, Australien oder die USA genau so ihre Zuwanderung steuern. Viele Zahlen, die Sarrazin jetzt dem geneigten Publikum um die Ohren haut, sind ein Ergebnis dieser jahrelangen Nicht-Politik. Trotzdem ist ihm der Vorwurf des Alarmismus zu machen, denn Sarrazin ignoriert schlicht, dass die politische Klasse - der er ja selbst angehört - durchaus lernfähig ist. Seit zwei Jahren gibt es Einbürgerungstests und zum Teil erhebliche Beschränkungen beim Nachzug von ausländischen Familienangehörigen. Man ist doch dabei, sich der problematischen Stadtteile und der entstandenen Parallelgesellschaften anzunehmen. Spät zwar, aber nicht zu spät - zumal Deutschland dabei durchaus auf eine wachsende Zahl an Zuwanderern zählen kann, die sich voll in die Mehrheitsgesellschaft integriert haben. Das sind nicht nur Profi-Sportler, sondern vor allem Facharbeiter, Handwerker, Dienstleister, Akademiker. Sarrazin aber reitet lieber Panik-Attacken, schreibt von "Eroberung durch Fertilität?" Das Fragezeichen verrät schon, dass er sich seiner Sache gar nicht so gewiss ist, denn natürlich sinkt mit dem sozialen Aufstieg die Geburtenrate - deshalb wird es in der besonders durchlässigen US-Gesellschaft auch in Jahrzehnten nicht so sein, dass Latinos oder Schwarze die absolute Bevölkerungsmehrheit stellen. Sarrazin behauptet: Wer sich stärker vermehrt, wird am Ende Europa besitzen. Einen Beleg dafür liefert er nicht. Kann er auch nicht, denn der widerspräche auch seiner Erkenntnis, dass sich vor allem die Unterprivilegierten vermehren. Auf Beispiele, dass ausgerechnet die Unterschichten jemals ein Land oder gar einen Kontinent "besessen" hätten, kann auch Sarrazin nicht verweisen - er entlarvt sich als Scharlatan. SPD und Bundesbank sollten Sarrazin stellen, aber nicht vor die Tür setzen. Damit täte man nur den Rechtsextremen den Gefallen, ihre paranoide Behauptung zu bestätigen, dass in Deutschland politische Gesinnung gleichgeschaltet werde. Wird sie aber nicht, dies ist ein freies Land. Und vielleicht ist sogar Sarrazins Provokation zu danken, wenn die sozialen und demographischen Probleme dieses Landes künftig mit jener seriösen Schonunglosigkeit diskutiert werden, die ihnen entspricht. joerg-helge.wagner@weser-kurier.de

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