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Landeszeitung Lüneburg: Wenn unbegrenzte Macht lockt Grünen-Europaabgeordnete Rebecca Harms: Erdogans Präsidialsystem erzwingt die Einfrierung des EU-Beitrittsprozesses

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Lüneburg/Straßburg. Die Wahlen in der Türkei haben Europa einen Kater beschert. Zu sehr hatten die Europäer sich zuvor an den Bildern einer ungewohnt kämpferischen, ja siegesgewissen Opposition berauscht. Angesichts einer schwächelnden Wirtschaft schien Recep Tayyip Erdogan mit seinem Griff nach der absoluten Macht überreizt zu haben. Das Ende einer Ära wurde erwartet. Von wegen. Erdogan holte bei den Präsidentschaftswahlen die absolute Mehrheit der Stimmen schon im ersten Wahlgang. Das ihn als Jubel-Türken unterstützende Parteienbündnis aus konservativ-religiöser AKP und ultra-nationalistischer MHP holte die Mehrheit im Parlament. Wie soll sich Europa gegenüber dem neuen Sultan am Bosporus verhalten, der die Türkei vor Jahren erst liberalisierte und nun in eine Schein-Demokratie umwandelt? Grünen-Europapolitikerin Rebecca Harms sieht die Türkei "weiter von der EU entfernt denn je". Im LZ-Interview der Woche fordert sie: Setze Erdogan wie angekündigt ein Präsidialsystem ohne Gewaltenteilung und Machtkontrolle um, "müssen nach der Mehrheitsmeinung des Europäischen Parlaments die Beitrittsverhandlungen ausgesetzt werden". Dass Erdogan in Deutschland mehr Stimmen erhielt als unter den Bedingungen der gelenkten türkischen Demokratie sei ein Alarmsignal. Harms: "Bei den Auslandstürken in den angelsächsischen Ländern hat Erdogan verloren." Ein Ende der Ära Erdogan ist nicht abzusehen. Ganz im Sinne des neuen Sultans, der sich einen Palast bauen ließ mit einer vier Mal größeren Grundfläche als Versailles.

Vor dem Wahlgang war die Opposition erstmals seit Jahren optimistisch gewesen, Erdogans Macht beschneiden zu können. Was war fehlerhaft: die Arbeit der Demoskopen oder die Selbsteinschätzung der Erdogan-Gegner? Rebecca Harms: Die Demoskopen haben relativ gut gelegen bei den Einschätzungen der Ergebnisse der Oppositionsparteien. Überschätzt wurde das Abschneiden der früheren Innenministerin Aksener. Eine der Erwartungen war auch, dass sich mehr konservative Wähler gegen den Allmachtanspruch von Recep Tayyip Erdogan stemmen und für sie stimmen würden. Dann wäre es zur Stichwahl gekommen. Hier war die Opposition zu optimistisch. Offenbar wurde auch der Erfolg der AKP-Strategie unterschätzt, die rechtsradikale MHP quasi im Huckepack-Verfahren zum Wahlerfolg zu tragen. Die Opposition in der Türkei war und ist weiterhin stark. Angesichts der schwierigen und unfairen Umstände während des sehr kurzen Wahlkampfes, also der Inhaftierung von Mitgliedern der Oppositionspartei, ohne pluralistische Presselandschaft, damit ohne faire Wahlberichterstattung und angesichts von Gewalt und Drohungen gegen Oppositionspolitiker nutzte die Opposition ihre Chancen auf beeindruckende Weise. Es ist besonders bemerkenswert, dass die HDP trotz zunehmender Unterdrückung und Kriminalisierung und mit ihrem Kandidaten Selahattin Demirtas hinter Gittern es nun zum dritten Mal geschafft hat die 10%-Hürde zu überschreiten.

15 Jahre lang hat Erdogan davon profitiert, dass die Wähler ihm die wirtschaftlichen Erfolge der Türkei zugute schrieben. Die Phase des Aufschwungs endet aber gerade. Wenn nicht mal die Inflation Erdogan gefährlich wird, muss sich Europa dann auf einen ewigen Erdogan einstellen? Harms: Das ist aus heutiger Sicht schwer einzuschätzen. Für uns als Europäisches Parlament ist erstmal wichtig, eine Antwort zu formulieren, wenn Erdogan nun wie angekündigt ein Präsidialsystem mit nahezu unbegrenzter Macht für sich selbst einführt. Er ist Staats- und Regierungschef zugleich, kann Minister entlassen und Verfassungsrichter benennen. Ein derartiges System ohne Gewaltenteilung und Kontrolle ist nicht mit der Perspektive einer EU-Mitgliedschaft vereinbar ist und muss nach der Mehrheitsmeinung des Europäischen Parlaments zur offiziellen Aussetzung der Beitrittsverhandlungen führen

Kurdische Spitzenpolitiker in Haft, Verhaftungen noch am Wahltag, Ausnahmezustand, eine weitgehend auf Linie gebrachte Presse. Waren diese Wahlen so frei wie die Märzwahlen zum Reichstag 1933? Harms: Die Wahlen waren nicht fair und nicht frei. Ohne Pressefreiheit und mit weitgehend gleichgeschalteten Medien, die für oppositionelle Stimmen nur noch Nischen lässt, mit einem Staatsfernsehen, das Erdogan zehn Mal mehr Sendezeit einräumt als allen Oppositionskandidaten zusammen, sind wir von Fairness weit entfernt. Oppositionspolitiker wurden schon vor Jahren aus dem Parlament geworfen und vor Gericht gestellt. Doch trotz aller Einschüchterungstaktiken fand in der Türkei im Gegensatz zu anderen autoritär regierten Ländern noch ein Wettstreit der beiden politischen Blöcke statt. Schwer zu beurteilen ist, ob das bei der nächsten Wahl noch mal so sein wird.

Also noch ist die Türkei nicht Russland, aber die Möglichkeit besteht... Harms: ...klar ist, dass die Türkei mit der Umsetzung des Verfassungsreferendums nicht in Richtung Rechtsstaat und Demokratie vorangehen wird.

Kam es zu Manipulationen? Harms: Da möchte ich dem Bericht der Wahlbeobachter von OSZE und dem Europarat nicht vorgreifen. Viele Berichte aus der Wahlnacht zeigen, dass es zu Übergriffen und vielfältigen Behinderungen von Wahlbeobachtern gekommen ist, dass Wahlurnen beschlagnahmt wurden. Die Bewertung müssen wir den Beobachtermissionen vor Ort überlassen.

Wie stark verfängt die Propaganda, wonach alle Missstände in der Türkei Ergebnis von Verschwörungen sind? Harms: Erdogan hat in den letzten Jahren verschiedene Gruppen in der Türkei gegeneinander ausgespielt und aufgehetzt. Er verschärft innere Konflikte. Da nicht davon auszugehen ist, dass er diesen Kurs nach den Wahlen ändern wird, bleibt die türkische Gesellschaft in einer Zerreißprobe.

Einer der Sündenböcke ist die Gülen-Bewegung. Kann über die Hexenjagd gegen den einstigen Verbündeten das Experiment, Islam und Demokratie in der Türkei zu versöhnen, scheitern? Harms: Die massenhafte Verfolgung der Gülen-Bewegung, die Sippenhaft gegen Familienangehörige und Kollegen von Beschuldigten verhöhnt rechtsstaatliche Prinzipien und Menschenrechte. Eine derartige Massenverfolgung sucht ihres gleichen. Was wir heute in der Türkei sehen, habe ich noch in keinem anderen Land erlebt. Klar muss der Putschversuch aufgeklärt werden, aber die internationale Gemeinschaft muss sich viel klarer gegen diese Massenverfolgung wenden.

Ist nicht eher eine Verschärfung zu erwarten? Knapp die Hälfte der türkischen Wähler wollte einen starken Führer. Wird Erdogan dies als Mandat nehmen, für eine Hexenjagd gegen die moderne, laizistische Hälfte der türkischen Gesellschaft? Harms: Erdogan hatte angekündigt, den Ausnahmezustand zu beenden. Das allein wird aber nicht reichen, um sich demokratischen Gepflogenheiten und dem Respekt vor dem Recht wieder anzunähern. Es muss endlich Gerechtigkeit geben für Hunderte und Tausende von Türkinnen und Türken, die im Gefängnis sitzen, die ihr Vermögen oder ihre Jobs verloren haben oder die ins Exil geflüchtet sind. Auch die Pressefreiheit muss wiederhergestellt werden.

Ist nicht eher ein Durchregieren zu erwarten? Künftig dürfte noch mehr als schon bisher Frömmigkeit zum Leitbild der Türkei werden. Wird Erdogan das Erbe Atatürks wegwischen und die Türkei bei den Autokratien Zentralasiens verankern? Harms: Derartige Befürchtungen sind berechtigt. Ich würde mir wünschen, dass es nicht so kommt, sondern dass die Türkei zurückfindet auf einen Weg des Respekts für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Am wichtigsten wäre, so schnell wie möglich den Friedensprozess mit den Kurden wieder zu beleben. Es wurde so viel Wut gegeneinander neu entfacht. Dies ist für eine Gesellschaft schwer zu tragen.

Rund dreiviertel der Türken in Deutschland, die nicht direkt der Propagandamaschine Erdogans ausgesetzt waren, stimmten für Erdogan. Warum? Harms: Eine meiner Erfahrungen ist, dass in der Diaspora die politischen Entwicklungen in der Heimat radikdaler gespiegelt werden. Das kann man auch unter den Russlanddeutschen beobachten. Aber was Stoff für intensives Nachdenken liefert, ist die Tatsache, dass die wahlberechtigten Türken in den Niederlanden und Deutschland weit überproportional die AKP wählten, während die Türken in den USA und Großbritannien umgekehrt mit großer Mehrheit für die oppositionelle CHP gestimmt haben.

Ist dort die Integration besser gelungen als bei uns? Harms: Das gilt es herauszufinden. Hat Europa noch eine Option, um die demokratischen Kräfte in der Türkei in der heraufziehenden harten Phase zu stärken? Harms: Business as usual darf keine Option sein. Es gilt, die noch immer starken Kräfte zur Verteidigung der laizistischen, demokratischen Türkei zu unterstützen. Die EU ist gegenüber der Türkei und auch der türkischen Opposition in der Pflicht. Die Umsetzung der Verfassungsänderungen lässt eine Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen nicht mehr zu. Wie eine neue aktive Türkeipolitik von nun an aussehen soll, muss gemeinsam in der EU geklärt werden.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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