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Landeszeitung Lüneburg: Hunger ist Menschenwerk
Experte Benedikt Haerlin: Wenn wir in der Landwirtschaft umsteuern, macht die Erde uns noch lange satt

Lüneburg (ots)

Am Horn von Afrika stirbt derzeit in manchen Gebieten alle sechs Minuten ein Kind an Hunger. Millionen Menschen sind bedroht, Zehntausende auf der Flucht. Kein Land ist dabei so schlimm betroffen wie Somalia. Die Apokalypse in Ostafrika lässt vergessen, dass weltweit mehr als eine Milliarde Menschen hungern. Unnötig, meint Benedikt Haerlin, einer der Autoren des ersten Weltagrarberichtes. Wenn der Tank nicht Vorrang bekäme vor dem Teller und das Steak nicht vor dem Getreide, könnte die Erde noch mehr Milliarden Menschen ernähren, meint Haerlin.

Ist der Hunger in Ostafrika unabwendbares Schicksal oder zumindest zum Teil Menschenwerk?

Benedikt Haerlin: Ostafrika erlebt seit Jahrhunderten solche verheerenden Dürren. Der Klimawandel wird die Lage weiter verschärfen. Heute haben wir anders als vor 100 Jahren aber durchaus die Möglichkeit, solchen Naturkatastrophen zu begegnen, ohne dass Menschen sterben müssen. Der Hunger in Ostafrika ist deshalb zum größten Teil Menschenwerk. Das Werk von Bürgerkriegsherren, kriminellen Eliten, einer nicht existierenden Regierung, aber auch von Hilfsorganisationen, die viel zu spät aktiv wurden, obwohl bereits seit einem Jahr von der Welternährungsorganisation FAO vor einer drohenden Hungersnot gewarnt wurde.

Wieso gelingt es dennoch nicht, schon frühzeitig Hilfe für Hirten zu organisieren, bevor deren Herden verhungern?

Haerlin: Das müssen Sie die Verantwortlichen vom World Food Programme und anderen Hilfsorganisationen fragen. Es hat damit zu tun, dass finanzielle Mittel immer erst dann fließen, wenn es Bilder von dem Elend gibt. Dieser mediale Katastrophen-Zynismus macht frühzeitiges Eingreifen schwierig, aber nicht unmöglich.

Werden wir satten Völker immer nur dann kurz aufmerksam, wenn Bilder verhungernder Kinder über den Bildschirm flimmern?

Haerlin: In der Tat. Das ist besonders fatal, weil die große Mehrheit der Hungernden -- anders als derzeit in Ostafrika -- nicht unter extremen Bedingungen in Auffanglagern lebt und keine Fernsehteams anlockt. Die meisten verhungern unbeachtet. Das Gros der fast 1 Milliarde Hungernden weltweit verhungert zwar nicht, leidet aber unter extrem eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten, kann an nichts anderes denken, als wie sie an die nächste Mahlzeit kommen. Gerade die Kinder sind davon fürs Leben gezeichnet. Der Zugang zu Bildung, sozialer Mindestabsicherung und Produktionsmitteln ist nur theoretisch, wenn das Menschenrecht auf gesunde und ausreichende Ernährung nicht erfüllt ist.

Wie groß ist bei diesem "Hintergrundhunger" die Rolle verfehlter Agrarpolitik der afrikanischen Länder selbst?

Haerlin: Fehler der Regierungen spielen eine wesentliche Rolle, aber man darf dabei nicht nur auf Afrika blicken. Zwei Drittel aller Hungernden leben in Asien. Ein Viertel allein in Indien, über zehn Prozent in China, in aufstrebenden Nationen also mit boomender Ökonomie, die genug Geld haben, um alle ihre Bürger ausreichend zu ernähren. In Afrika selbst ist eine über Jahrzehnte verfehlte Agrarpolitik zu beklagen. Das wurzelt in der Ignoranz der städtischen Eliten, die die Kolonialherren abgelöst haben, gegenüber der Landbevölkerung. Bauern und Hirten werden in vielen dieser Gesellschaften auf eine Art und Weise verachtet, die ja auch in Europa bis ins 19. Jahrhundert anzutreffen war. Schuld sind aber auch die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, die den Agrarsektor jahrzehntelang vernachlässigt und auf globale Märkte setzten, die vollkommen versagt haben.

Müsste Spekulanten der Zugriff auf Nahrungsmittel grundsätzlich entzogen werden?

Haerlin: Die Spekulation mit Lebensmitteln spielt vor allem für die Armen und teilweise sogar den Mittelstand in der Stadt eine Rolle. Hier steigen die Nahrungsmittelpreise empfindlich, wenn Spekulanten den Markt anheizen und werfen die Schichten, die sich gerade aus der absoluten Armut befreit hatten, auf Not und Hunger zurück. In den Metropolen können sie auf die Straße gehen und vor den Regierungspalast. Sprunghaft angestiegene Lebensmittelpreise waren so der Ausgangspunkt des arabischen Frühlings. An vielen Armen auf dem Lande hingegen geht der Weltmarkt weitgehend vorbei. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln wird auch dadurch gefördert, dass heute Nahrung und Energie austauschbar werden. Man kann mit Mais Sprit herstellen oder Menschen ernähren. Entscheidet sich dies danach, wer mehr bezahlt, kommt meist der Tank vor dem Teller.

Liegt hier der Grund dafür, dass die Zahl der Hungernden seit 2002 steigt, obwohl die Bauern der Welt ein Drittel mehr Kalorien produzieren als man bräuchte, um alle Menschen zu ernähren?

Haerlin: Das muss man sich tatsächlich immer wieder klar machen: Global gesehen haben wir eine Situation krasser Überproduktion von Nahrungsmitteln. Es gibt Berechnungen, nach denen die Menge der heute produzierten landwirtschaftlichen Produkte zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, fast das Doppelte der heutigen Weltbevölkerung. Verschwendet wird zum einen bei den Nachernte-Verlusten, also dass in tropischen Ländern Nahrung verrottet, weil sie nicht anständig gelagert oder transportiert werden kann. Am meisten verschwenden wir in den Industrieländern, wo rund ein Drittel der fertig produzierten Lebensmittel weggeworfen werden. Ein weiterer Punkt ist die Umwandlung von pflanzlichen in tierische Kalorien. Über ein Drittel der Getreideernte der Welt wird an Tiere verfüttert. Dabei gehen Kalorien verloren in einem Verhältnis von 2:1 bei Geflügel, 3:1 bei Schweinen, Zuchtfischen, Milch und Eiern sowie 7:1 bei Rindern.

Auch wenn sich der Düngereinsatz nicht mehr erhöhen und die Nutzfläche nicht ausweiten lässt, könnten wir mit einer effektiven Verteilung und einer Änderung der Lebensweise auch die in wenigen Jahren auf neun Milliarden anwachsende Menschheit ernähren?

Haerlin: Selbstverständlich sind wir imstande, uns alle bestens zu ernähren. Aber wir müssen unsere industrielle Landwirtschaft umstellen, die dem Prinzip folgt, einfach immer mehr zu produzieren. Wir brauchen ein Konzept, genug für alle mit geringstem Ressourceneinsatz zu produzieren. Das verschwenderische Übermaß und der bittere Mangel sind zwei Seiten derselben Medaille.

Fast 40 Prozent aller Klimakiller werden in Zusammenhang mit der Lebensmittelproduktion in die Atmosphäre geblasen. Wie kann man Klimaschutz und Kampf gegen den Hunger versöhnen?

Haerlin: Dafür gibt es kein Patentrezept, da müssen Tausende von Einzelmaßnahmen ineinandergreifen. Die wesentlichen Punkte sind: Erstens die massive Reduzierung des Einsatzes von Kunstdünger auf Stickstoffbasis. Das ist eine der ganz großen Emissionsquellen, weil die Überreste des Ammoniaks als Lachgas in die Atmosphäre entweichen. Zudem ist ein hoher Energieaufwand erforderlich, um diesen Kunstdünger herzustellen. Zweitens müssen die Anbaumethoden geändert werden. Beispielsweise darf der Boden nicht nackt -- ohne Bewuchs -- daliegen gelassen werden, weil ihm ansonsten massiv CO2 entweicht. Drittens produzieren wir in den Industrieländern deutlich zu viel Fleisch. Zum einen zulasten unserer Gesundheit selbst. Zum anderen für das Klima. Fleisch ist einer der größten Klimakiller. Viertens müssen wir die Wege verkürzen, auf denen wir unsere Lebensmittel transportieren. Fünftens muss der Verarbeitungsgrad der Lebensmittel gesenkt werden. Die Energiebilanz eines Fertigproduktes samt Transport und der letztendlich wegzuwerfenden Verpackung ist verheerend gegenüber frischen, weitgehend unbehandelten Nahrungsmitteln.

Die Klimaerwärmung lässt den Wüstengürtel längs des Äquators wachsen. Das bedroht Kornkammern der Menschheit im Mittleren Westen der USA, im südlichen Australien und im Norden Indiens. Wirft der Klimawandel alle Konzepte gegen den Hunger über den Haufen?

Haerlin: Der Klimawandel zwingt uns, Abschied zu nehmen von Monokulturen, die wir über vierzig Jahre zugelassen haben. Hier ist das Risiko des Totalausfalls in einer Missernte am größten. Er zwingt uns auch, umzudenken bei der Frage, was wir künftig für Getreide oder Ölfrüchte anbauen. Gegenwärtig machen Reis, Weizen und Mais 80 Prozent unserer gesamten Getreideernte aus. Es gibt aber 300 verschiedene Getreidesorten, von denen viele besser für die Klimaerwärmung geeignet sind oder sich besser anpassen lassen. Wir müssen im Treibhaus Erde auf Vielfalt setzen. Zudem gehört in der Tat die Zeit der Vergangenheit an, in der wir sicher mit großen zu importierenden Ernteüberschüssen anderer Länder rechnen konnten. Der Mittlere Westen der USA, Lateinamerika und auch Australien werden erhebliche Ernteausfälle zu verzeichnen haben. Europa muss also darauf achten, sich selbst ernähren zu können. Heute ist Europa zu 70 Prozent abhängig von Eiweißfrüchten, die wir aus Lateinamerika importieren. Angesichts der Unwägbarkeiten des Klimawandels ist es wichtig, sich frühzeitig in jeder Region aller Optionen zu vergewissern, um dann gewappnet zu sein.

Das Interview führte

Joachim Zießler

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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