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Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zur Steuerpolitik der Bundesregierung, Autorin: Claudia Bockholt

Regensburg (ots)

Der Großvater war ein "kleiner Mann". Trotzdem brachte er es in den 50er Jahren zu einem Siedlungshäuschen. Heute würde es wohl nur noch für eine Mietwohnung in wenig privilegierter Lage reichen. Und das, obwohl er mit seinem Facharbeiterlohn heute zur gehobenen Mittelschicht zählte. Gutes Einkommen, eine "Nur"-Hausfrau daheim und drei Kinder, von denen einige studieren wollen: Das sind im Jahr 2018 schon fast K.o.-Kriterien für den bürgerlichen Traum vom Eigenheim. Vom Aufbau von Werten, die irgendwann weitervererbt werden könnten, ganz zu schweigen. Auch deshalb hat die Mittelschicht der Berliner Politik bei den Wahlen im September eine schallende Ohrfeige verpasst. Die laufenden Sondierungen zeigen jedoch: Union und SPD haben nichts gelernt. Die Steuereinnahmen sprudeln auf nie gekannte Höchststände. Gäbe es einen besseren Zeitpunkt, den Arbeitnehmern, deren Realeinkommen seit Jahren stagnieren und die zudem höhere Steuern und Sozialabgaben schultern müssen, endlich mehr Netto vom Brutto zu lassen? Kaum irgendwo auf der Welt müssen Arbeitnehmer und Unternehmen so viel vom sauer Verdienten an den Staat weiterreichen. Einem alleinstehenden Durchschnittsverdiener blieben laut OECD im Jahr 2016 von 100 Euro nur 51, 60. In den Niederlanden hätte er 62,50 behalten dürfen, in der Schweiz sogar 78,20 Euro. Doch in Berlin denkt man lieber über eine Erhöhung der Spitzensteuersätze nach. Zwar soll die Bemessungsgrenze auf 60 000 Euro statt bisher knapp 55 000 Euro steigen. Das brächte eine leichte Entlastung für die meisten Steuerzahler. Doch eine Anhebung des Spitzensteuersatzes würde sie in unserem System linear steigender Steuersätze wieder auffressen. Experten kommen sogar zu dem Schluss, dass die unteren und mittleren Einkommen am Ende noch stärker belastet würden. Kein Wunder, dass das unruhige Grummeln in der gesellschaftlichen Mitte nicht verstummt. Deutschland steht wirtschaftlich glänzend da, doch die Sorgen derer, welche die Wirtschaftswissenschaftler als bedeutsame, weil stabilisierende Kraft betrachten, wollen nicht vergehen. Das hat keineswegs nur mit der Furcht zu tun, dass zugewanderte Fremde ihnen etwas wegnehmen könnten. Es ist das grundsätzliche Gefühl, dass es nicht mehr gerecht zugeht in Deutschland. Einkommensmillionäre jagen ihre Vermögen dreimal um den Globus und schütteln die Steuerlast auf einem verschlungenen Weg über Briefkastenfirmen ab. Ein Angestellter muss Kontrollbesuche fürchten, wenn er ein Arbeitszimmer geltend macht. Es könnte ja ein Sofa drin stehen. In allen Städten, die attraktive Arbeitsplätze bieten, schnellen die Miet- und Kaufpreise in absurde Höhen. Berufseinsteiger mit normalem Einkommen müssen sich wieder in Wohngemeinschaften zusammentun, weil das Geld für eine eigene Bleibe nicht reicht. Wer auf dem Land lebt, zahlt weniger Miete, muss dafür wiederum viel Geld für die Mobilität hinlegen. Das erklärt, warum die Sorgen der Menschen trotz bester Konjunkturdaten in den letzten Jahren sogar noch gewachsen sind. Für all diese Verschiebungen scheinen die Politiker den Blick verloren zu haben. Selbst die SPD, die sich stets "Gerechtigkeit" in großen Lettern auf die Fahnen pinnt, weiß offenbar gar nicht mehr, welche Klientel sie überhaupt meint. Die Kragengrenze zwischen Arbeitern und Angestellten ist gefallen. Die Mittelschicht wird heute nicht mehr über die Frage "Blaumann oder Anzug", sondern über das Einkommen definiert. Mancher Facharbeiter verdient mittlerweile mehr als ein Hochschulabsolvent. Doch wenn er nicht erbt, hat er es heute ziemlich schwer, allein durch Erwerbsarbeit an ein eigenes Häuschen zu kommen. Das hat der "kleine Mann" vor 60 Jahren mit seiner Hände Kraft noch geschafft.

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