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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Katia Meyer-Tien zu Bildungspolitik

Regensburg (ots)

Wenn sich in diesen Tagen in Hamburg rund 60 Hochschulpräsidenten verschiedenster Länder zum ersten Mal treffen, um über die Zukunft der Universitäten weltweit zu diskutieren, steht eine Frage ganz oben auf der Tagesordnung: Was ist die richtige Balance zwischen Wissenserwerb und ganzheitlicher menschlicher Entwicklung? Die Frage, ob eher die Vermittlung von Faktenwissen oder eher die Persönlichkeitsbildung im Fokus der Schulen und Hochschulen stehen sollte, ist nicht weniger als die Gretchenfrage der modernen Bildungspolitik. Und angesichts der ermüdenden Diskussionen um G8 oder G9, um Zentralabitur und Vergleichbarkeit von Schulabschlüssen ist das auch die Frage, auf die die Politik eine Antwort finden muss, wenn das Bildungssystem in Deutschland eine Zukunft haben soll. Die Richtung schien dabei eigentlich klar. Die Bologna-Reform an den Hochschulen und die Reformen zum achtjährigen Gymnasium sollten es den Schülern und Studenten ermöglichen, in möglichst kurzer Zeit ein fundiertes Faktenwissen aufzubauen und so jung wie möglich ins Berufsleben einzusteigen. Im Fokus dabei: Die Verdichtung der Lehrpläne und die Konzentration auf den Wissenserwerb. Eine Strategie, die langfristig das Potenzial hätte, auch das Problem der Vergleichbarkeit der deutschen Abiturnoten lösen: Ein einheitlicher Kanon, was welcher Schüler wann gelernt haben muss, bundesweit einheitliche Lehrpläne und zentrale Abituraufgaben würden die Ungerechtigkeiten im föderalen System beseitigen, alle Schüler hätten denselben Wissensstand und die gleichen Chancen beim Hochschulzugang. Vorbilder für solch fakten- und leistungsorientierte Bildungssysteme gibt es: Singapur, Japan und Korea gehören immer wieder zu den PISA-Gewinnern. Nun liegen die ersten Erfahrungen mit G8 vor, Studien haben gezeigt, dass die Leistungen der G8-Abiturienten vergleichbar sind mit denen der G9-Schüler, dass die G8-Schüler aber gestresster sind und häufiger eine Klasse wiederholen. Vereine, Orchester und Theatergruppen leiden unter dem Zeitmangel der Schüler, Lehrer wünschen sich in der Oberstufe mehr Zeit für anspruchsvollere Lektüren, für mehr Experimente in den Naturwissenschaften, kurz: Beklagt wird nun, was die logische Konsequenz der Priorisierung der Faktenvermittlung ist, dass nämlich die kreative Entfaltung der einzelnen Persönlichkeiten nicht mehr im Fokus der Schulbildung steht. Und die Politik lenkt ein: Ganz offensichtlich ist es gesellschaftlicher Konsens, dass die deutschen Schulen (und Hochschulen) mehr sein müssen als Orte der rein leistungsorientierten Wissensvermittlung. Was aber kann oder muss dieses "mehr" sein? Und wie kann es gelingen, trotz unterschiedlicher Prioritätensetzungen in den einzelnen Bundesländern zu vergleichbaren und untereinander durchlässigen Schulsystemen und zu einheitlichen Schulabschlüssen zu kommen? Die CSU reagiert auf die Kritik am G8 mit der Einführung der Mittelstufe Plus, die SPD würde gerne die elfte Klasse wieder einführen, die Grünen wollen Wahlfreiheit zwischen zwei- und dreijähriger Oberstufe. Andere Bundesländer haben sich von G8 bereits wieder verabschiedet. So aber bleibt das deutsche Schulsystem ein Flickenteppich der unterschiedlichsten Versuchslabore, voller Baustellen bei laufendem Betrieb mit unklaren Ergebnissen. Ändern könnte sich das nur, wenn die deutschen Kultusminister erst einmal unabhängig von partei- und landesspezifischen Interessen auf nationaler Ebene klären würden, was die Hochschulpräsidenten schon international diskutieren: Was unser Bildungssystem überhaupt leisten soll und was der beste Weg sein könnte, um das zu erreichen. Wenn noch nicht einmal das gelingt, ist es vielleicht an der Zeit, zu überdenken, ob die föderale Organisation der Bildungspolitik im internationalen Kontext noch angemessen ist.

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