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Mittelbayerische Zeitung: Die EU geht volles Risiko
Europa hat in der Ukraine Erwartungen geweckt, die nicht zu erfüllen sind. Das könnte sich böse rächen. Leitartikel von Daniela Weingärtner

Regensburg (ots)

Für die Abgeordneten des Europaparlaments war die feierliche Zeremonie gestern im Straßburger Plenarsaal eine Premiere. Zum ersten Mal wurde ein Nachbarschaftsabkommen zeitgleich unterzeichnet. Per Videoschaltung spendeten sich die Parlamentarier in Kiew und Straßburg gegenseitig Beifall. Doch die symbolträchtigen Bilder konnten nicht vergessen machen, dass es eine leere Hülle war, über die abgestimmt wurde. Am Freitag hatte die EU den wirtschaftlichen Kern des Vertrages nach Gesprächen mit russischen und ukrainischen Vertretern für 15 Monate ausgesetzt. Ist dieses Zugeständnis das richtige Signal? Erteilt es nicht vielmehr Putins völkerrechtswidrigen Handlungen den europäischen Segen? Immerhin erhält die EU durch diesen Schachzug ein zusätzliches Druckmittel in die Hand. Handelskommissar De Gucht schickte gestern eine deutliche Warnung nach Moskau: Sollte Russland seinen Handelskrieg gegenüber der Ukraine fortsetzen, werde auch der wirtschaftliche Teil des Abkommens sofort in Kraft gesetzt. Festzuhalten ist, dass der Ukraine durch die Aufschiebung keine wirtschaftlichen Nachteile entstehen. Die zunächst für eine Übergangszeit beschlossenen Einfuhrerleichterungen für ukrainische Waren bleiben in Kraft, die Zahlen belegen deren Wirksamkeit eindrucksvoll: Um 15 Prozent sind die Importe in die EU seit Juni gestiegen. Die ökonomischen Nachteile trägt fast ausschließlich die europäische Seite, die für weitere 15 Monate keinen zollfreien Zugang zum ukrainischen Markt erhält. Diese Frist soll genutzt werden, um russische Bedenken zu prüfen und möglichst aus der Welt zu schaffen. In Moskau sorgt man sich, dass billige europäische Waren über die Ukraine nach Russland eingeführt werden könnten und den einheimischen Produzenten das Geschäft ruinieren. Die russischen Vorbehalte sind spätestens seit November bekannt, als der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch die Unterschrift unter das Abkommen in letzter Sekunde verweigerte. Schon damals hatten sich Beobachter gefragt, wieso die Europäer so unbedarft in diese Krise stolperten. War denn der negative Effekt des Assoziierungsabkommens auf die russische Wirtschaft nicht bedacht worden, bevor man den politischen Prozess in Gang setzte? Hatte niemand die wirtschaftlichen Folgen durchgerechnet und das politische Erdbeben vorhergesehen? Diese Fragen stellen sich zehn Monate später unverändert. Das stümperhafte außenpolitische Agieren bescherte der EU zwei Hypotheken, an denen sie noch lange knabbern wird: Putin annektierte die Krim und mischte sich in der Ostukraine ein, zwischen Ost und West begann eine neue Eiszeit. Viele junge Ukrainer brachten hohe Opfer, um ihr Land gegen den russischen Hegemonieanspruch zu verteidigen und in eine demokratische Zukunft unter europäischem Dach zu führen. Daraus leiten sie nun den moralischen Anspruch ab, rasch Mitglied der EU zu werden. Doch die Bereitschaft der Europäer, die Ukraine in absehbarer Zeit als neunundzwanzigstes Mitgliedsland zu akzeptieren, geht gegen null. Es rächt sich nun nicht nur die stümperhafte Politik der europäischen Regierungen und der EU-Kommission, die das Abkommen mit Kiew so gedankenlos vorantrieben. Es rächt sich auch die revolutionsbegeisterte Rhetorik vieler Politiker aus allen politischen Lagern. Sie verpassten die Chance, den Menschen in der Ukraine reinen Wein einzuschenken. Enttäuschte Liebe könnte sich rasch in ihr Gegenteil verkehren. Das Risiko besteht, dass sich eine ganze Generation junger Ukrainer von Europa und seinen Werten abwendet.

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