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EKD - Evangelische Kirche in Deutschland

Erstmalig Denkschrift der EKD über Armut in Deutschland.
Huber: Armut in einem reichen Land ist ein Skandal

Hannover (ots)

Die erste Denkschrift der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD) zum Thema Armut wurde am heutigen Dienstag in 
Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Vorsitzende des Rates der 
EKD, Bischof Wolfgang Huber, und der Vorsitzende der Kammer für 
soziale Ordnung der EKD, Professor Gert G. Wagner haben in die im 
Gütersloher Verlagshaus erschienene Denkschrift eingeführt. "Armut in
einem reichen Land ist mehr als nur eine Herausforderung, sie ist ein
Skandal," sagte Huber vor Journalisten. Die evangelische Kirche nehme
auf vielfältige Weise Anteil an dem Schicksal einer wachsenden Anzahl
von Menschen, die unter materieller Not leiden. Gleichzeitig 
registriere die Kirche mit Besorgnis das Ansteigen versteckter Formen
von Armut, die ein weiteres "Armutsrisiko" produzierten. In der 
Denkschrift werde betont, "dass Armut weit mehr als ein Mangel an 
Einkommen ist," zeigte Professor Gert G. Wagner. Unfreiwillige Armut 
sei ein Symptom für unzureichende Teilhabe am gesellschaftlichen 
Leben in vielen Dimensionen.
Die Denkschrift "Gerechte Teilhabe. Befähigung zu 
Eigenverantwortung und Solidarität" gibt Anstöße zur engeren 
Verzahnung von Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, aber auch 
zur Umgestaltung des Verhältnisses von Sozial- und 
Wirtschaftspolitik. Ebenso werden auf den 80 Seiten die 
Handlungsmöglichkeiten von Kirchengemeinden und diakonischen 
Einrichtungen beschrieben.
Nachfolgend die Äußerungen des Ratsvorsitzenden der EKD, Bischof 
Wolfgang Huber, und des Vorsitzenden der Kammer für soziale Ordnung 
der EKD, Professor Gert G. Wagner.
Zur Einführung sagte der Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber:
Zum ersten Mal legt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 
eine Denkschrift zur Armut in Deutschland vor. Sie nimmt damit eine 
Selbstverpflichtung ernst, die im Gemeinsamen Wirtschafts- und 
Sozialwort der Kirchen "Für eine Zukunft in Solidarität und 
Gerechtigkeit" von 1997 formuliert worden war. Diese 
Selbstverpflichtung besteht in der Orientierung an der vorrangigen 
Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns. Schon
damals wurde als Ziel formuliert, "Ausgrenzungen zu überwinden und 
alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen". Die Kirchen haben 
sich in diesem Zusammenhang dazu verpflichtet, "den Blick auf die 
Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von 
benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf 
strukturelle Ungerechtigkeit" zu lenken.
Viele Stellungnahmen seitdem sind von dieser Grundorientierung 
bestimmt. Nun aber hält es die Evangelische Kirche in Deutschland für
angezeigt, sich in einer konzentrierten Bemühung mit dem Thema der 
Armut in Deutschland auseinander zu setzen. Denn Armut in einem 
reichen Land ist mehr als nur eine Herausforderung, sie ist ein 
Skandal. Die Möglichkeiten, die unserem Land zur Verfügung stehen, um
nachhaltig vor Armut zu schützen, sind historisch gesehen enorm. 
Trotzdem steigt die Zahl der Armen in unserer Gesellschaft. Die 
evangelische Kirche nimmt auf vielfältige Weise Anteil an dem 
Schicksal einer wachsenden Anzahl von Menschen, die unter materieller
Not leiden. Gleichzeitig registrieren wir mit Besorgnis das Ansteigen
versteckter Formen von Armut, die ein weiteres "Armutsrisiko" 
produzierten. Nach jüngsten Statistiken betrifft dies beinah jede 
siebte Person in Deutschland. Ursache mangelnder Teilhabe am 
gesellschaftlichen Leben ist vor allem Arbeitslosigkeit. Mit ihr 
verbunden sind fehlende Sozialkontakte, Hindernisse bei Ein- und 
Aufstiegsmöglichkeiten, Ausgrenzung und Vereinsamung. Deswegen ist es
in einer hochentwickelten und reichen Gesellschaft wie der deutschen 
aus ethischer Sicht notwendig, nicht nur extreme Armut - materielle 
Armut unterhalb des sozio-kulturellen Existenzminimums -, sondern 
auch Armut im Sinne unzureichender Teilhabe entschlossen und 
wirkungsvoll zu bekämpfen. In der Verbesserung von Teilhabe- und 
Beteiligungsmöglichkeiten sieht die EKD eine wirksame und bisher zu 
wenig beachtete Strategie der Armutsbekämpfung. "Gerechte Teilhabe" 
definiert die Armutsdenkschrift als "umfassende Beteiligung aller an 
Bildung und Ausbildung sowie an den wirtschaftlichen, sozialen und 
solidarischen Prozessen der Gesellschaft".
In einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche will die EKD mit der 
vorliegenden Denkschrift Impulse für die gerechte Gestaltung des 
Zusammenlebens in unserem Land geben. Hierbei konkretisiert und 
aktualisiert sie die Position des Gemeinsamen Wortes des Rates der 
EKD und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz "Für eine 
Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit". In Aufnahme der Tradition 
dieses Wortes und weiterer Stellungnahmen der EKD betont sie, dass 
eine Gesellschaft heute vor allem Chancengleichheit sicherstellen 
muss; diese muss so gestaltet sein, dass möglichst viele Menschen 
tatsächlich in der Lage sind, ihre jeweiligen Begabungen sowohl zu 
erkennen, als auch sie auszubilden und schließlich produktiv für sich
selbst und andere einsetzen zu können. Dies wird in erster Linie 
durch Berufstätigkeit möglich, da Arbeitslosigkeit zentrale Ursache 
für Armut im Sinne mangelnder Beteiligung darstellt.
Lebens-, Entfaltungs- und Beteiligungschancen setzen 
Eigenverantwortung ebenso voraus wie Solidarität. Bei Vermittlung 
dieser Kompetenzen kommt dem Bildungssystem eine Schlüsselrolle zu. 
Deswegen sieht der Rat der EKD im Bereich der Bildung den derzeit 
größten Handlungsbedarf. Vor allem Bildung und Qualifizierung bieten 
in einer hochentwickelten komplexen Gesellschaft und unter den 
Bedingungen der Globalisierung die Chance, einen Arbeitsplatz zu 
erhalten und so dauerhaft vor Armut gesichert zu sein. Dem steht das 
derzeitige deutsche System der Elementar- und Schulbildung durch die 
herkunftsbedingte Zuweisung ungleicher Entwicklungschancen entgegen. 
Was wir brauchen, ist Entschlossenheit auf allen Ebenen, um 
Chancengerechtigkeit praktisch zu realisieren und die vorhandenen 
Fähigkeiten zur Entwicklung von Eigenverantwortung und Solidarität in
Erziehung, Bildung und Ausbildung zu fördern. Ein neuer Geist der 
Wertschätzung und der Beteiligung muss die im Bildungssystem 
vorhandenen Tendenzen zur Ausgrenzung überwinden. Nur so kann das 
Problem der Arbeitslosigkeit nachhaltig angegangen werden.
Da auch gesteigerte Qualifizierung auf absehbare Zeit weder 
Arbeitslosigkeit noch die Situation geringerer Qualifikation zu 
überwinden vermag, stellt das Ziel der Teilhabe aller an bezahlter 
Arbeit keine Alternative zur Beschäftigungsförderung von geringer 
bezahlten Arbeitsplätzen dar. Die evangelische Kirche befürwortet 
derartige Instrumente, fordert jedoch gleichzeitig, den 
Niedriglohnsektor so klein wie möglich zu halten. Öffentlich 
geförderte Arbeitsplätze stellen hier aus Sicht der EKD eine 
sinnvolle Alternative dar. Zudem spielen Aspekte der klassischen 
monetären Verteilungsgerechtigkeit weiterhin eine wichtige Rolle. Nur
durch materielle Transferleistungen, die den allgemeinen 
Entwicklungen angepasst werden, wird auch Menschen, die kein eigenes 
Einkommen erzielen können, ein Leben in Würde möglich.
Ein weiteres wichtiges Steuerungselement zur Bekämpfung von Armut 
ist die Familienpolitik. Sie muss weit stärker als bisher an der 
Situation der Armen ausgerichtet werden. Eine große Zahl von Kindern 
wird von den durchaus begrüßenswerten Maßnahmen der Bundesregierung 
zur Verbesserung der Situation von Familien nicht erreicht oder 
zumindest nicht wirksam genug gefördert. Ihnen hilft nach aller 
Erfahrung auch nicht die Erhöhung von materiellen Hilfen, sondern vor
allem die Bereitstellung institutioneller Förderleistungen. In dieser
Hinsicht könnte sich der kostenlose Zugang zu Kindertagesstätten als 
ein richtiger Weg erweisen.
Die vorliegende Denkschrift gibt eine Fülle weiterer Anstöße zur 
engeren Verzahnung von Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, 
aber auch zur Umgestaltung des Verhältnisses von Sozial- und 
Wirtschaftspolitik. Ebenso werden die Handlungsmöglichkeiten von 
Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen beschrieben.
Der Realitätssinn des christlichen Glaubens schützt uns vor der 
Illusion, Armut ließe sich aus eigener Kraft endgültig beseitigen. 
Aber der Glaube ermutigt uns dazu, das Menschenmögliche zu tun, um 
Armut und mangelnde Teilhabe nachhaltig zu begrenzen.
Ich danke der Kammer für soziale Ordnung der EKD unter dem Vorsitz
von Prof. Dr. Gert G. Wagner und mit Dr. Jens Kreuter als 
Geschäftsführer sehr herzlich dafür, dass sie diesen Text in 
intensiver Arbeit vorbereitet hat. Der Rat der EKD hat sich diese 
Überlegungen gern zu Eigen gemacht und legt sie als Denkschrift der 
Öffentlichkeit vor. Wir wollen dadurch einen Beitrag dazu leisten, 
dass in den Reformbemühungen unserer Zeit die Überwindung, die 
Eingrenzung und die Verhinderung von Armut mit der notwendigen 
Priorität versehen werden.
Der Vorsitzende der Kammer für soziale Ordnung der EKD, Professor 
Gert G. Wagner sagte:
Die Kammern der EKD bringen aus allen gesellschaftlichen Bereichen
Sachverstand in die Arbeit der EKD. In der Kammer für Soziale Ordnung
sind neben Theologen vor allem Sozialwissenschaftler und Praktiker 
des Sozialstaates versammelt. Insofern ist es nicht überraschend, 
dass die EKD-Denkschrift zu Armut und Gerechter Teilhabe in weiten 
Teilen recht nüchterne Überlegungen enthält. Wir halten das für einen
Vorzug, da wir ganz deutlich machen, dass es bei der Sozial- und 
Wirtschaftspolitik neben den Zielen, deren Bedeutung wir ausdrücklich
nicht unterschätzen, auch auf Details und die Berücksichtigung von 
Wirkungszusammenhängen ankommt. Die Denkschrift sagt auch 
ausdrücklich, dass man die Details der Politik nicht aus der 
biblischen Überlieferung oder sozialethischen Überlegungen ableiten 
kann, sondern dass diese Details im demokratischen Diskurs erarbeitet
werden müssen. Insofern muss die Kirche und die EKD sich in das 
politische Geschäft einmischen. Und genau das ist eines der Ziele der
Denkschrift.
Wir erarbeiten und betonen, dass Armut weit mehr als ein Mangel an
Einkommen ist. Zumal es ja bei Christen durchaus auch freiwillig 
gewählte Einkommensarmut geben kann. Diese ist dann aber immer mit 
einem Reichtum an geistiger Kraft und gegenseitiger Hilfe verbunden. 
Unfreiwillige Armut ist hingegen ein Symptom für unzureichende 
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in vielen Dimensionen - oft auch
einer unzureichenden Teilhabe am Leben von Kirchengemeinden.
Überwindung von unfreiwilliger Armut kann letztlich nur durch eine
bessere Bildungspolitik gelingen. Dadurch verbessern sich die 
alltäglichen Teilhabechancen in allen Lebensbereichen - nicht zuletzt
auch im christlichen Gemeindeleben. Und bessere Bildung sorgt nahezu 
automatisch auch für höhere Einkommen und damit zur Überwindung von 
Einkommensarmut. Denn - so hält die Denkschrift ausdrücklich fest - 
Deutschland gehört insgesamt zu den Gewinnern der wirtschaftlichen 
Globalisierung. Man muss allerdings ein zunehmend höheres 
Qualifikationsniveau haben, um auch persönlich die Früchte der 
Globalisierung ernten zu können.
Bessere Bildungspolitik, die im Vorschulalter anfangen muss, soll 
nicht nur zur Eigenverantwortung befähigen, sondern der Titel der 
Denkschrift weist bereits darauf hin, dass auch der Wille zur 
Solidarität vom Bildungssystem vermittelt werden muss. Und 
Solidarität mit den Schwachen der Gesellschaft wird immer notwendig 
sein.
Das beste Bildungssystem kann nicht verhindern, das es Verlierer 
gibt. Denen muss in einer menschenwürdigen Gesellschaft durch die 
vielgescholtenen "monetären Transfers" geholfen werden. Man kann den 
Transfer-Staat nicht einfach durch einen "investiven Sozialstaat" 
ersetzen. Man kann lediglich dafür sorgen, dass der Sozialstaat 
stärker als bislang als vorsorgender Sozialstaat agiert.
Die Denkschrift sagt - wie gesagt - auch ganz deutlich, dass um 
die Höhe dieser Transfers immer gerungen werden wird und muss. Denn 
man kann aus der Bibel nicht ableiten, wie hoch der Sozialhilfesatz 
oder ALG II sein sollte. Die Denkschrift enthält auch wichtige 
methodische Überlegungen zur Berechnung von Armuts- und 
Armuts-Risiko-Quoten. Wir machen deutlich, dass die für 
internationale Vergleiche entwickelten Messkonzepte, die sich an der 
Hälfte des Durchschnittseinkommens oder an 60 Prozent des Medians des
bedarfsgewichteten Haushaltseinkommens ausrichten, keineswegs ohne 
nähere Diskussion als Indikatoren für politische Entscheidungen 
eignen. Denn was ein Einkommen wirklich wert ist, hängt zum Beispiel 
auch davon ab, was ein Staat an Infrastruktur und Real-Transfers (z. 
B. Kinderbetreuung und gebührenfreie Schulen) bereitstellt.
Ebenso wenig kann man staatlich geschaffene Arbeitsplätze für 
Langzeitarbeitslose ("dritter Arbeitsmarkt") aus der biblischen 
Überlieferung ableiten. Wir halten diese Maßnahme angesichts des 
Elends von Hundertausenden von Langzeitarbeitslosen trotzdem für 
notwendig und empfehlen die begrenzte Schaffung staatlich 
eingerichteter Arbeitsplätze ausdrücklich.
Ebenfalls nicht biblisch ableitbar, aber wichtig: die Denkschrift 
betont, dass der Anteil der Steuerfinanzierung an der sozialen 
Sicherung zunehmen sollte. Denn die Finanzierung des deutschen 
Sozialstaates durch Beiträge auf Arbeitseinkommen ("Lohnnebenkosten")
erweist sich immer mehr als Arbeitsplatzvernichter.
Auch ich habe zu danken. Mein Dank gilt dem Rat der EKD, der die 
Denkschrift  in Auftrag gab und ihren Entwurf zweimal sehr 
konstruktiv und kollegial mit der Kammer diskutierte, sodass der Rat 
sich schließlich den endgültigen Text als Denkschrift zu eigen machen
konnte. Mein Dank gilt vor allem natürlich den Mitgliedern der Kammer
und ihrem Geschäftsführer Dr. Jens Kreuter. Wir haben wirklich gut 
miteinander diskutiert und den Text gemeinsam erarbeitet. Ganz 
besonderer Dank gilt meinem Kollegen Prof. Dr. Heinrich 
Bedford-Strohm, Bamberg, der die kammerinterne Arbeitsgruppe zur 
Denkschrift leitete.
Hannover/Berlin, 11. Juli 2006
Pressestelle der EKD
Christof Vetter
Hinweis:
"Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und 
Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in 
Deutschland zur Armut in Deutschland" ist erschienen im Gütersloher 
Verlagshaus (ISBN-13: 978-3-579-02385-4) und zum Preis von 4,95 Euro 
im Buchhandel erhältlich.
Evangelische Kirche in Deutschland
Hans-Christof Vetter
Herrenhäuser Strasse 12
D-30419 Hannover
Telefon: 0511 - 2796 - 269
E-Mail:  christof.vetter@ekd.de

Original-Content von: EKD - Evangelische Kirche in Deutschland, übermittelt durch news aktuell

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  • 03.07.2006 – 10:34

    Presseeinladung

    Hannover (ots) - Sehr geehrte Damen und Herren, der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wird am Dienstag, 11. Juli, seine neueste Denkschrift "Gerechte Teilhabe. Befähigung zur Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Armut in Deutschland" veröffentlichen. Als kleiner Hinweis auf den Inhalt der im Gütersloher Verlagshaus als Buch mit 80 Seiten erscheinenden Denkschrift, sei so ...