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EKD - Evangelische Kirche in Deutschland

Wer das Gedächtnis verliert, verliert die Orientierung – Ein Wort der christlichen Kirchen zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges

Hannover (ots)

Zum sechzigsten Male jährt sich am 8. Mai 2005
das Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Völker Europas und der Welt und
mit ihnen wir Deutschen waren mit diesem Tag endgültig von der
nationalsozialistischen Schreckensherrschaft befreit. Die Leiden des
Krieges wirkten noch lange nach. Die Botschaft von der Versöhnung
fand nur zögernd Gehör. Und doch ging von diesem Datum eine Epoche
aus, in welcher der Frieden in Europa Gestalt gewinnen konnte.
Botschafter der Versöhnung und des Friedens wollen wir als Kirchen
auch heute, sechzig Jahre nach Kriegsende, sein.
Wir erinnern uns, damit wir uns unserer eigenen Verantwortung
bewusst werden.
Immer weniger Menschen leben unter uns, die die Schrecken des
Krieges, seine Vorgeschichte und den neuen Anfang nach der
Katastrophe noch selbst erlebt haben und aus eigener Anschauung davon
erzählen können. Umso stärker sind die Bemühungen geworden, die
Geschehnisse historisch darzustellen und persönliche Erinnerungen der
Zeitzeugen aufzubewahren. Zahlreiche neue Filme, Fernsehsendungen und
Bücher belegen dies. Die Gewaltgeschichte, die von Deutschland
ausging und auf Deutschland zurückschlug, nimmt immer noch, sei es
bewusst oder unbewusst, Einfluss auf das Leben, Denken und Empfinden
der Menschen. So verlangt unsere Geschichte immer neu nach
Auseinandersetzung und Deutung. Wer das Gedächtnis verliert, verliert
die Orientierung.
Wir gedenken der Unheils- und Schuldgeschichte nicht, um auf ewig
an sie gefesselt zu bleiben, sondern um ihren Bann zu brechen. Als
Christen wissen wir: Der Glaube an Gottes Güte macht frei, sich auch
den dunklen Seiten der eigenen Biographie und der Schuldgeschichte
des eigenen Volkes zu stellen.
Wir erinnern uns, damit die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und
der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihre mahnende Kraft
behalten.
Der Zweite Weltkrieg hat mehr als fünfzig Millionen Tote
gefordert. Im Osten Europas, wo der deutsche Feldzug als
rassistischer Vernichtungskrieg geführt wurde, aber auch in
Deutschland blieben zahllose Städte und Dörfer verwüstet zurück. In
den deutschen Konzentrationslagern geschahen unfassbare Verbrechen.
Die planmäßige Judenvernichtung übersteigt noch heute jede
Vorstellungskraft. So schwer es den Zeitgenossen und auch den
Nachgeborenen fallen mag, sich diese Geschehnisse immer wieder vor
Augen zu führen – wir halten damit die Mahnung wach, alles in unseren
Kräften Stehende zu tun, um eine Wiederholung solchen Schreckens
unmöglich zu machen.
Wir erinnern uns, damit wir uns über die Verführbarkeit des
Menschen, seine Fähigkeit zu unmenschlichen Taten und seinen Mangel
an Mut nicht täuschen.
Der Erinnerung an die von Deutschen begangenen Untaten ist in den
vergangenen Jahren verstärkt die Erinnerung an den deutschen
Widerstand zur Seite gestellt worden. Die Verschwörer des 20. Juli,
die Mitglieder der „Weißen Rose“, Männer und Frauen wie Dietrich
Bonhoeffer, Alfred Delp, Bernhard Lichtenberg oder Sophie Scholl –
sie sind Zeugen einer besseren Welt und bleiben leuchtende und
ermutigende Vorbilder für den Aufstand des Gewissens gegen Unrecht
und Gewalt.
Es gab auch viele Formen eines kleinen Widerstands im Alltag.
Jedoch dürfen die Proportionen nicht aus dem Blick geraten: Die
Bereitschaft zum Widerspruch gegen die Barbarei und gar der Einsatz
des eigenen Lebens im Widerstand waren das Außergewöhnliche.
Verbreitet und „normal“ hingegen waren – auch unter den Christen –
das Mitmachen, das Schweigen, das Nicht-Sehen-Wollen. Die
nationalsozialistische Schreckensherrschaft konnte für so lange Zeit
wirkungsvoll funktionieren, weil wir Menschen oft für das Böse blind,
zur Unterstützung des Bösen verführbar, zum Widerspruch gegen das
Böse zu feige und zu eigenen bösen Taten fähig sind. Als Christen
machen wir uns über den Menschen keine Illusionen: Er ist dazu
berufen, Gottes Mitarbeiter zu sein, aber immer wieder wird er vom
Teufel geritten.
Wir erinnern uns, damit dem Unrecht, das den Opfern zugefügt
wurde, nicht auch die Auslöschung ihres Gedächtnisses folgt.
Das nationalsozialistische Regime, der Zweite Weltkrieg und die
Kriegsfolgen haben Millionen Menschen zu Opfern von Unrecht und
Gewalt werden lassen. Es ist eine bleibende Verpflichtung, das
Gedächtnis dieser Opfer zu bewahren und sie, wo immer möglich, aus
der Namenlosigkeit herauszuholen. Das Unrecht, durch das sie ihr
Leben verloren, soll nicht darin noch einen späten Triumph feiern,
dass auch die Erinnerung an sie ausgelöscht wird.
Zeitweise bestand in Deutschland eine große Scheu, über den Kreis
der vom nationalsozialistischen Regime Verfolgten hinaus auch andere
deutsche Opfer, vor allem die Opfer von Bombenkrieg, Flucht und
Vertreibung, in das Gedenken einzubeziehen. Es gab eine verständliche
Besorgnis, auf diese Weise könnten die einen gegen die anderen Opfer
aufgerechnet und so würde die deutsche Schuld relativiert werden.
Jenen ewig Gestrigen und ihren jungen Nachahmern, die sich heute
wieder des Leidens der deutschen Zivilbevölkerung zu ihren Zwecken
bemächtigen wollen, würden wir jedoch durch das Verschweigen dieser
Opfer bloß in die Hände spielen. Wichtiger noch: Es gibt eine
historisch-moralische Verantwortung, allen Opfern gerecht zu werden
und sich der Geschichte unverkürzt zu erinnern. Nur wo dies
geschieht, können auch die Nachgeborenen ein angemessenes Verhältnis
zu ihrer eigenen Herkunft, die tief in der Geschichte unseres Volkes
wurzelt, gewinnen. Ohne Ursache und Folgen zu verwischen, werden wir
so des Fluchs der sich fortzeugenden Gewalt gewahr, die bis heute das
Leben vieler Menschen belastet.
Wir erinnern uns, damit wir dankbar bleiben.
Über alles Bitten und Verstehen hinaus ist Deutschland von vielen
Folgen befreit worden, die die nationalsozialistische
Schuldgeschichte über uns heraufbeschworen hatte. Der Westen
Deutschlands erhielt schon bald die Chance, eine freiheitliche
Ordnung aufzubauen und Wohlstand zu erwerben. Nach langen Jahrzehnten
der auch als Folge des Zweiten Weltkriegs in ganz Mittel- und
Osteuropa und auch im Osten Deutschlands errichteten kommunistischen
Diktatur ist Europa – trotz aller nachwirkenden Probleme – in eine
neue hoffnungsvolle Phase seiner Geschichte eingetreten. Die Teilung
Deutschlands in zwei Staaten wurde überwunden. Aber wir Menschen sind
vergesslich. Wir neigen dazu, das, was wir heute genießen, als
selbstverständlich zu betrachten. Wir vergessen leicht, woher wir
kommen und in welcher Situation sich unser Land und Volk vor gerade
zwei Generationen befand. Erinnerung vertreibt den falschen Schein
der Selbstverständlichkeit. Sie macht dankbar für das Erreichte und
mahnt zugleich, den Segen, der auf uns gelegt wurde, nicht wieder zu
verspielen.
Wir erinnern uns, damit wir nicht nachlassen in dem Bemühen, den
Frieden in Gegenwart und Zukunft zu sichern und zu fördern.
Auch sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bleibt es
unsere zentrale Aufgabe, den Frieden zu wahren, zu fördern und zu
erneuern. Wir wissen: Es gibt keinen dauerhaften Frieden ohne
Gerechtigkeit, ohne den Schutz der Menschenrechte, ohne Freiheit und
ohne die Achtung des Rechts. Damit sind zugleich die
Herausforderungen bezeichnet, vor denen wir nach innen und nach außen
stehen.
Nach innen gilt es, die kostbare Errungenschaft des freiheitlichen
und demokratischen Rechtsstaates zu bewahren und zu stärken. Nach
außen muss Deutschland seinen Weg friedlicher Nachbarschaft und der
Mitarbeit in einem sich enger zusammenschließenden Europa fortsetzen.
Wir dürfen dankbar sein, dass in einem großen Teil Europas die
Außenbeziehungen separater Nationalstaaten schon weitgehend zu
Innenbeziehungen in einer politischen Union geworden sind. In jenem
Kontinent, von dem im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege ihren Ausgang
genommen haben, ist auf diese Weise eine gute Grundlage für eine
dauerhafte Friedensordnung geschaffen worden. Für die Europäische
Union kommt es jetzt darauf an, die Balance zu finden zwischen einer
Vertiefung der Gemeinschaft unter den derzeitigen Mitgliedern und der
behutsamen Fortsetzung ihrer Erweiterung. Zugleich kommt uns
Europäern eine große, wahrscheinlich sogar wachsende Verantwortung
zu, internationale Probleme zu bewältigen und dabei der Herrschaft
des Rechts Geltung zu verschaffen. Die Erfahrung des Zweiten
Weltkrieges mahnt uns, alle Kräfte für die Schaffung eines gerechten
Friedens einzusetzen.
Der 8. Mai ist in diesem Jahr der Sonntag vor dem Pfingstfest. Die
Erwartung der christlichen Gemeinde richtet sich bereits an diesem
Sonntag auf das Kommen des Heiligen Geistes. Von ihm bekennen die
Christen über die Jahrhunderte und über alle Grenzen hinweg: „Wir
glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht“. Die
Leben schaffende Kraft Gottes hat sich uns gerade in dem neuen Anfang
nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs gezeigt. Auf sie dürfen
wir auch in Gegenwart und Zukunft vertrauen.
Hannover/Bonn/Frankfurt am Main, 27. April 2005
Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
Karl Kardinal Lehmann
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
Bischof Dr. Walter Klaiber
für den Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in
Deutschland
Für die Richtigkeit:
Pressestelle der EKD
Silke Fauzi
Hinweis: Diese Pressemitteilung wird zeitgleich von der EKD, der
Deutschen Bischofskonferenz und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher
Kirchen in Deutschland verschickt.
Evangelische Kirche in Deutschland
Hans-Christof Vetter
Herrenhäuser Strasse 12
D-30419 Hannover
Telefon: 0511 - 2796 - 269
E-Mail:  christof.vetter@ekd.de

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