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WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche/Standpunkt von Chefredakteur Stefan Baron: Rechnung des Lebens

Düsseldorf (ots)

Ohne Wirtschaft ist alles nichts. Aber
Wirtschaft ist auch nicht alles. Die deutsche Wirtschaft wird
im Jahr 2005 vermutlich – und auch das nur, wenn alles einigermaßen
gut geht – etwa halb so stark wachsen wie in diesem Jahr. Was selbst
schon nicht gerade toll war. Laufen einige Dinge schief, droht sogar
eine Rezession. Wahrlich keine guten Aussichten also.
Dennoch kann 2005 ein gutes Jahr für Sie werden, liebe Leserinnen
und Leser. Zum einen ist die gesamtwirtschaftliche Sicht eine
Durchschnittsbetrachtung, die viel Raum lässt für bessere
einzelwirtschaftliche Ergebnisse. Mit attraktiven Innovationen etwa
lassen sich sicher auch nächstes Jahr schöne Zuwachsraten erzielen.
Zum anderen – und vor allem: Wirtschaftliches Wachstum ist nicht
gleichbedeutend mit größerer Zufriedenheit oder gar tieferem Glück.
Diese haben mehr mit einer stabilen Gesundheit, einem liebenden
Partner, wohlgeratenen Kindern, treuen Freunden, einer Arbeit, die
Freude macht oder guten Büchern zu tun als mit höherem
Volkseinkommen.
Die Conditio humana ist, gottlob, mehr als nur ein ökonomischer
Zustand. Unser Leben wäre trivial, erschöpfte es sich in der
Maximierung von materiellem Wohlstand. Mehr noch als wirtschaftliches
Wachstum brauchen wir Deutsche geistigen Fortschritt. Das
Hauptproblem unseres Landes ist nicht die prekäre ökonomische Lage,
sondern der geistig-moralische Verschleiß, der jener zu Grunde liegt.
Mehr als das lahmende Bruttosozialprodukt muss uns die Rezession
unseres intellektuellen, mentalen und seelischen Sozialprodukts
besorgen – die RTL-Republik Deutschland, die dem Volk sämtliche
konstruktiven Kräfte aus den Adern saugt und seine Ansprüche ans
Leben vulgarisiert.
Wenn wir es im neuen Jahr schafften, diesem Verfall Einhalt zu
gebieten, hätten wir daher, trotz schwachen Wirtschaftswachstums,
viel Grund zur Freude und für unser Land deutlich mehr erreicht als
es das Bruttosozialprodukt zum Ausdruck bringt. Wir hätten den
Grundstein gelegt für neuen, größeren Wohlstand – auch materiellen,
aber nicht nur.
Den materiellen Dingen widmen wir sowieso oft schon zu viel
unserer Kraft. Statt dass wir sie besitzen, besitzen sie, ohne dass
wir es merken, häufig uns. Warum sonst fällt es den Deutschen seit
Jahren so unendlich schwer, auf lieb gewonnene Besitzstände zu
verzichten?
Der griechische Lebenskünstler und Philosoph Diogenes kann uns da
weiterhelfen. Ihm entlief einst sein Sklave Manes. Als er wieder
aufgefunden worden war, wollte sein Herr ihn nicht mehr zurückhaben.
Begründung: „Es wäre doch eine Schande, wenn Manes ohne Diogenes
leben könnte, Diogenes aber nicht ohne Manes.“
Gewiss, Verzicht zu üben ist leichter empfohlen als getan. Aber
oft müssen wir doch gar nicht wirklich verzichten, sondern tauschen
nur ein Gut gegen ein anderes, viel Wertvolleres. Gerade an der
Schwelle zu einem neuen Jahr müssten wir eigentlich erkennen, wie
schnell über all unserer Geschäftigkeit das Leben dahinfließt, wie
sehr wir mit unseren materiellen Gütern geizen, aber nicht mit dem
kostbarsten, was wir haben – unserer Zeit. Dabei wusste schon der
römische Philosoph Seneca, dass es besser ist, „die Rechnung seines
Lebens zu kennen als die über die Staatsmagazine“.
Lassen wir uns also von den düsteren Wachstumsprognosen für 2005
nicht über Gebühr beeindrucken. Nehmen wir uns unseres eigenen Lebens
wieder mehr an, lassen wir uns weniger treiben, befreunden wir uns
mit unseren Verhältnissen, suchen wir stärker nach der Lösung der
wahren Probleme, die den ökonomischen zu Grunde liegen und zugleich
über sie hinausreichen! Besinnen wir uns auf den höchsten Zweck
unseres Lebens!
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen, liebe Leserinnen und
Leser, ein gutes neues Jahr!
Stefan Baron

Kontakt:

WirtschaftsWoche, Sekretariat Chefredaktion, Frau Zenke-
Stoffels, Tel. 0211-887-2114

Original-Content von: WirtschaftsWoche, übermittelt durch news aktuell

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