Bischof Bätzing würdigt Lehrschreiben "Dilexi te" von Papst Leo XIV.
Bonn (ots)
Heute (9. Oktober 2025) ist das erste größere Schreiben von Papst Leo XIV. mit dem Titel "Dilexi te - Über die Liebe zu den Armen" veröffentlicht worden. Mit der Apostolischen Exhortation - einer Ausdrucksform des Lehramtes, die Papst Franziskus mit "Evangelii gaudium" (2013) und "Laudate Deum" (2023) auch gewählt hat - führt Leo XIV. grundlegende Gedanken seines Vorgängers fort, nimmt Rückgriffe auf die biblische und lehramtliche Tradition und entwickelt diese weiter. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing, ordnet das Dokument ein und würdigt es:
In seiner Exhortation Dilexi te fokussiert Papst Leo XIV. das Thema Armut und schließt an die Schwerpunkte seines Vorgängers, Papst Franziskus, an. Indem der Papst das aktuelle Schreiben am Gedenktag des hl. Franz von Assisi am 4. Oktober 2025 unterzeichnet hat, greift er einen Text auf, den sein Vorgänger bereits vorbereitet hatte - daraus erklären sich die zahlreichen Zitate aus dessen Texten. Er versieht die Ausführungen aber noch mit entscheidenden Akzenten und einer eigenen Handschrift. Beide eint der Wunsch, "dass alle Christen den tiefen Zusammenhang zwischen der Liebe Christi und seinem Ruf, den Armen nahe zu sein, erkennen mögen" (Dilexi te 3, im Folgenden werden die Nummern aus dem Dokument verwendet).
Im ersten Teil fordert der Papst von jedem in der Kirche "eine entschiedene und radikale Parteinahme für die Schwächsten". (16) Mit einem Längsschnitt durch die Kirchengeschichte zeigt er das Eintreten für und die Sorge um die Armen in der Kirche von Beginn an auf. Ein weiterer Querschnitt sind verschiedene mit der Armut verbundene Themen, zum Beispiel die Sorge für Kranke oder die Bildung von Armen. Intensiv widmet sich Leo XIV. der Geschichte der Soziallehre. Er schließt mit der Beschreibung der Armut als "eine beständige Herausforderung" (103-121), in der er betont, dass "Christen [...] die Armen nicht bloß als soziales Problem betrachten [dürfen]: Sie sind eine 'Familienangelegenheit'. Sie gehören 'zu den Unsrigen'. Die Beziehung zu ihnen darf nicht auf eine Tätigkeit oder eine amtliche Verpflichtung der Kirche reduziert werden." (104)
In der Tradition der Soziallehre mit Akzent auf Armut
Bereits bei der Frage nach der Begründung seiner Namenswahl hat Papst Leo XIV. auf Leo XIII. verwiesen, der sich mit seiner Sozialenzyklika Rerum novarum im Jahr 1891 der Sozialen Frage des 19. Jahrhunderts gewidmet hat. Mit der Exhortation löst er nun ein, was er mit dieser klaren Begründung bereits signalisiert hat: Leo XIV. positioniert sich nachdrücklich in der aus Rerum novarum heraus entwickelten Tradition der Sozialverkündigung. Im vierten Kapitel von Dilexi te entfaltet er, wie die Frage nach den Armen und das Verständnis von der Kirche als Kirche der Armen die Tradition durchziehen und zeigt vor allem deutlich die Neuausrichtung durch das Zweite Vatikanische Konzil auf, in dessen Kontext der untrennbare Zusammenhang des Geheimnisses Christi mit dem Geheimnis Christi in den Armen entwickelt wurde (83-86). Dabei sind die Armen dem Papst zufolge entscheidend für die Verkündigung des Evangeliums, aber nicht vorrangig in dem Sinn, dass es darum geht, Gott zu den Armen zu bringen, sondern vielmehr Gott bei den Armen zu finden.
Spezielle befreiungstheologisch-sozialethische Akzente in der Tradition von Franziskus
Für Kenner der innerkirchlichen Debatten ist es interessant, dass Leo sich im Gang durch diese Tradition ganz auf die Seite von Franziskus stellt, wenn er wie dieser völlig selbstverständlich die Formel von der (vorrangigen) Option für die Armen in den Mittelpunkt der Überlegungen stellt. Die seit den 1960er-Jahren von der Befreiungstheologie Lateinamerikas stark gemachte Grundperspektive ist längst in die theologische Tradition eingegangen (vgl. 16) und kennzeichnet nach Leo XIV. den Kern des Evangeliums. Er hält sie für geeignet, "eine außerordentliche Erneuerung sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft" (7) zu bewirken, "wenn wir dazu fähig sind, uns von unserer Selbstbezogenheit zu befreien und auf ihren [i. e. der Armen] Schrei zu hören" (7). Aus der gleichen befreiungstheologischen Tradition stammt die hier wieder aufgenommene Rede von der sozialen Sünde und den Strukturen der Sünde, letzteres aus der Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis (1987) von Papst Johannes Paul II. Auch dieser Denkansatz hat in der Zwischenzeit Einzug in die Theologie gehalten. Dabei handelt es sich um gesellschaftliche Strukturen, die aus der vorherrschenden Geisteshaltung des Egoismus und der Gleichgültigkeit leben und aus vermeintlich vernünftigen Gründen zur sozialen Entfremdung führen (vgl. 93). Thematisch greift Leo XIV. auf die Rede zurück von der Diktatur einer Wirtschaft, die tötet, wie es Papst Franziskus formuliert hat (92). Er erläutert, dass und wie zum Teil pseudowissenschaftliche Kriterien herangezogen werden, um den freien Markt und seine Gesetze als Lösungsmöglichkeit für das Problem der Armut zu begründen (114).
Die Gesichter der Armut
Papst Leo XIV. spricht von den vielen Gesichtern der Armen und der Armut (vgl. 9), er beschreibt die Entwicklung neuer und manchmal subtilerer und gefährlicherer Formen von Armut. Zugleich zeigt er in differenzierter Analyse auf, dass und wie die Welt sich entwickelt, eine Welt, "in der es immer mehr arme Menschen gibt, paradoxerweise auch die Zunahme einiger reicher Eliten" (11). Er spricht von einer Kultur, die ausgrenzt und gleichgültig ist gegenüber den Millionen von Menschen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen. Die besondere Not von Frauen, denen immer noch nicht die gleiche Würde und die gleichen Rechte wie den Männern zukommen, hebt er - wie schon Franziskus in Fratelli tutti - eigens hervor (12). Schließlich warnt er vor zunehmend einflussreich werdenden Ideologien, die die Schuld für die Armut bei den Armen selbst sehen. Dass die Vereinten Nationen die "Beseitigung der Armut zu einem der Milleniumsziele erklärt haben" (10), hebt er besonders positiv hervor und stellt sich damit an die Seite all derer, die gegen Armut ankämpfen.
Die Sorge um die Armen und ihre konstitutive Rolle im christlichen Glauben
Leo XIV. schlägt kein Patentrezept zur Lösung der Armutsproblematik vor, aber er benennt Grundpfeiler bezüglich der Frage, welche Rolle die Sorge um die Armen und der Kampf gegen die Armut im Kontext des katholischen Glaubens spielen. Dabei gibt er zu bedenken, dass das "Anliegen des Evangeliums nicht bloß in einer individuellen und innigen Beziehung zum Herrn besteht" (97). Immer wieder betont Papst Leo, dass den Armen nicht bloß durch Gebet, sondern auch durch tatkräftige Unterstützung geholfen werden muss, was sowohl das Almosengeben und den Gesinnungswandel umfasst als auch die Umgestaltung der Gesellschaft durch wirksame politische Maßnahmen mithilfe der Wissenschaften und Technik (vgl. 97). Er unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass es immer darum gehen muss, den Armen als Subjekt zu verstehen und ihm "aufmerksame Zuwendung" zukommen zu lassen, ihn "in seinem besonderen Wert zu schätzen, mit seiner Wesensart, mit seiner Kultur und mit seiner Art, den Glauben zu leben" (101). Als ein wesentliches Element zur grundlegenden Bekämpfung von Armut nennt Leo XIV. die Erwerbsarbeit, "dass die wichtigste Hilfe für einen armen Menschen darin besteht, ihm zu einer guten Arbeit zu verhelfen, damit er sich durch die Entfaltung seiner Fähigkeiten und durch seinen persönlichen Einsatz ein Leben verdienen kann, das seiner Würde besser entspricht" (115). Damit greift er ein zentrales Element der klassischen Soziallehre und Sozialethik auf, die in der Erwerbsarbeit einen entscheidenden Faktor für den einzelnen Menschen und seine Existenz, aber auch für die Gesellschaft und ihr Gemeinwohl erkennt. Papst Leo legt hier die Erfahrungen aus der Kirche Lateinamerikas zugrunde und ermutigt, die spezifische Perspektive der kontinentalen Bischofsversammlungen für die Weltkirche fruchtbar zu machen.
Nächstenliebe und die Sendung der Kirche am Beispiel der Migranten
Ausführlich behandelt der Papst das Thema der Armut als Cantus firmus der Tradition der Kirche, in der Bibel, bei den Kirchenvätern, den Heiligen. Im Text werden unterschiedliche Gruppen von Armen und Formen der Armut genannt, unter anderem auch die Migranten bzw. die Migration - ein Thema, das gerade gegenwärtig die ganze Welt beschäftigt und viele Gesellschaften zu spalten droht. Weder kritisiert er expressis verbis einzelne nationale Maßnahmen, die getroffen werden, um Migranten abzuweisen oder abzuschieben, noch empfiehlt er bestimmte Vorgehensweisen. So gesehen, mischt er sich nicht in konkrete politische Fragen ein. Und trotzdem wird sehr deutlich, dass Christinnen und Christen unglaubwürdig sind und nicht der Botschaft des Evangeliums entsprechen, wenn sie diese Aufgabe und Sendung der Kirche in diese Welt und Gesellschaft hinein nicht ernstnehmen. Christinnen und Christen bringen eine andere, eine veränderte und verändernde Perspektive in die Welt: "Wo die Welt Bedrohungen sieht, sieht sie Kinder; wo Mauern errichtet werden, baut sie Brücken. Sie weiß, dass ihre Verkündigung nur dann glaubwürdig ist, wenn sie sich in Gesten der Nähe und der Aufnahme ausdrückt; und dass in jedem zurückgewiesenen Migranten Christus selbst an die Türen der Gemeinschaft klopft." (75) Papst Leo macht gleichzeitig deutlich, dass die auf die Gesellschaft bezogene und caritative Dimension eine konstitutive Rolle für den christlichen Glauben spielt. Er wendet sich in seinem Dokument eindeutig gegen ein verkürztes Verständnis des Glaubens und hebt die soziale Dimension der Botschaft des Evangeliums hervor, nach der "die Würde eines jedes Menschen jetzt und nicht erst morgen zu respektieren [ist]" (92). Klar warnt Leo vor einem Rückzug der Kirche oder der Gläubigen von gesellschaftlicher Verantwortung, wenn er uns erinnert, "dass Religion, insbesondere die christliche, nicht auf den privaten Bereich beschränkt werden darf, so als ob die Gläubigen sich nicht auch um die Probleme der Zivilgesellschaft und die Ereignisse, die die Bürger betreffen, kümmern müssten". (112)
Ich bin Papst Leo XIV. dankbar für seine deutlichen Worte, in denen ich sowohl seine US-amerikanische Herkunft als auch Einflüsse aus seinem Wirken in Lateinamerika und Rom und seine monastische Prägung als Augustiner erkenne. Er macht mit diesem Dokument deutlich, dass er den von seinem Vorgänger eingeschlagenen Weg der Kirche einer verstärkten Zuwendung hin zu den Armen und Benachteiligten weitergeht. Ich wünsche mir, dass seine Worte intensive Rezeption und breite Beachtung inner- und außerhalb der Kirche erfahren.
Hinweise:
Zur Apostolischen Exhortation Dilexi te - Über die Liebe zu den Armen: https://ots.de/aedzkh
Pressekontakt:
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz
Pressestelle/Öffentlichkeitsarbeit
Kaiserstraße 161
53113 Bonn
Postanschrift
Postfach 29 62
53019 Bonn
Tel: 0228/103-214
Fax: 0228/103-254
E-Mail: pressestelle@dbk.de
Home: www.dbk.de
Original-Content von: Deutsche Bischofskonferenz, übermittelt durch news aktuell