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Schadinsekten beeinflussen die Sexualität von Blüten

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PRESSEMITTEILUNG

Schadinsekten beeinflussen die Sexualität von Blüten

Blüten sind sexuelle Strukturen von Pflanzen, von denen man normalerweise annimmt, dass sie sich im Einklang mit ihren gegenseitigen Bestäubern wie Bienen, Schmetterlingen und Honigvögeln entwickelt haben. Eine neue Studie unter Beteiligung der Technischen Universität München (TUM) in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern in Brasilien, Marburg und Zürich zeigt jedoch, dass pflanzenfressende Insekten eine zentrale Rolle spielen.

In einem kürzlich in der Fachzeitschrift Ecology Letters veröffentlichtem Artikel weisen Forschende nach, dass die Sexualität der Blüten von Pflanzenfressern wie blatt-, stängel- und wurzelfressenden Heuschrecken, Käfern und Raupen gesteuert wird. „Wir zeigen in der Arbeit, dass die sexuelle Evolution von Blüten durch herbivore Insekten beeinflusst wird. Das ist so eine Art Wettrüsten zwischen Pflanze und Tier, bei dem möglichst viel Fremdbestäubung der Pflanze einen Vorteil verschafft, weil dies zu höherer genetischer Variabilität führt. In der Evolutionstheorie nennt man das die ‚Red Queen Hypothesis‘“, sagt Johannes Kollmann, Professor für Renaturierungsökologie an der TUM School of Life Sciences.

Die Hypothese aus dem Wunderland

Die Rote Königin aus Lewis Carrolls berühmter Erzählung „Alice hinter den Spiegeln“ gab der Hypothese ihren Namen. In dieser Geschichte sagte die Rote Königin zu Alice: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“ Die Hypothese beschreibt, dass Organismen einem stetigen evolutionären Druck ausgesetzt sind. Deshalb müssen sie sich kontinuierlich weiterentwickeln, um nicht als benachteiligte Lebensformen ausselektiert zu werden.

Die Red-Queen-Hypothese soll den Vorteil der aus evolutionsbiologischer Sicht wenig effektiven sexuellen Fortpflanzung und das ständige „Wettrüsten“ konkurrierender Organismen (Parasit-Wirt, Beute-Jäger) erklären. Wenn sich geschlechtliche Organismen fortpflanzen, bringen sie Nachkommen hervor, die einzigartige Kombinationen von Abwehrstoffen gegen Parasiten enthalten, wodurch die Angriffswaffen der Parasiten weniger wirksam sind. Im Gegensatz dazu wird das Verteidigungsarsenal ungeschlechtlicher Organismen praktisch unverändert von den Eltern an die Nachkommen weitergegeben. So können Parasiten nach einigen Generationen lernen, wie sie ihr Abwehrarsenal entschärfen können. Nach der Red-Queen-Hypothese sind die Nachkommen von Individuen, die sich sexuell fortpflanzen, daher wesentlich besser geschützt als die von asexuellen Individuen.

Pflanzenfresser beeinflussen Blüten

Um die Theorie zu überprüfen, sammelten die Wissenschaftler Blüten von 141 deutschen Pflanzenarten aus verschiedenen Umgebungen, darunter Grasland, gemäßigte Wälder und alpine Vegetation. Im Labor wogen die Forscher das männliche und das weibliche Organ der Blüten, die für die Produktion von Pollen beziehungsweise der Eizellen zuständig sind. Anschließend berechneten sie die Männlichkeit der Blüte, ein Verhältnis aus dem Gewicht des männlichen Organs geteilt durch das Gewicht beider Geschlechtsorgane. Im Allgemeinen neigen Pflanzenarten, die mehr in das weibliche als in das männliche Organ investieren, zur Selbstbefruchtung und produzieren Samen mit geringerer genetischer Vielfalt. Im Gegensatz dazu neigen Arten, die mehr in das männliche als in das weibliche Organ investieren, zur Auskreuzung, wodurch Samen mit höherer genetischer Vielfalt entstehen.

Ein anderer Teil des Forschungsteams ging in die Bibliothek und ins Internet, um in einer umfangreichen Untersuchung abzuschätzen, wie viele Insektenarten jede einzelne Pflanzenart fressen. Angeleitet wurde dies von Martin Gossner, Gruppenleiter bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL und außerordentlicher Professor der ETH Zürich. Diese Untersuchung war nur dank des Wissens möglich, das sich in mehreren Jahrhunderten naturkundlicher Forschung in Deutschland angesammelt hatte. "Durch die Kombination der beiden unabhängigen Datensätze konnten wir nachweisen, dass die Männlichkeit der Blüten positiv mit der Anzahl der Insekten-Herbivoren und der Vielfalt ihrer Ernährungsweisen verbunden ist. Diese eindeutigen und robusten Zusammenhänge haben uns verblüfft", sagt Martin Gossner.

"Das Forschungsteam fand heraus, dass Pflanzenarten, die von mehr Insekten angegriffen werden, die Sexualität der Blüten beeinflussen. Dies ist ein außergewöhnlicher Befund, der die Red-Queen-Hypothese stark unterstützt. Das unterstreicht die Bedeutung des Erhalts der genetischen Vielfalt für unsere Nahrungspflanzen und die Gefahr der Verringerung der Populationen der Wildtiere. Ohne genetische Vielfalt sind alle Arten durch ihre Parasiten bedroht", sagt Carlos Roberto Fonseca von der brasilianischen Universität Rio Grande do Norte. "In einer Zeit, in der die Menschheit von vielen Viren und Bakterien bedroht ist, erinnert uns die Rote Königin daran, dass wir dankbar sein sollten für unser multiethnisches Erbe, das uns eine natürliche Resistenz gegen unsere Parasiten verleiht und für unser langfristiges Überleben von entscheidender Bedeutung ist", so der Forscher abschließend.

Publikation:

Fonseca, C. R., Gossner, M. M., Kollmann, J., Brändle, M., Paterno, G. B. (2022), Insect herbivores drive sex allocation in angiosperm flowers. Ecology letters. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/ele.14092

Mehr Informationen:

Die Forschung von Prof. Johannes Kollmann ist auf die Renaturierung anthropogen gestörter Ökosysteme fokussiert. Der Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung naturnaher Referenzsysteme, Kriterien für die Auswahl von Pflanzenmaterial für Renaturierungen, Tier-Pflanze-Interaktionen, invasiven Neobiota und Langzeitmonitoring renaturierter Systeme. In einem Vortrag der Reihe TUM@Freising stellte Prof. Kollmann kürzlich den theoretischen Hintergrund dieser Disziplin und ihre Ziele dar. Zum Vortrag: https://www.wzw.tum.de/index.php?id=556#c11066

Bild für die redaktionelle Berichterstattung: Larven und Käfer des Maiglöckchenhähnchens (Lilioceris merdigera) fressen an Blättern von Lilien- und Lauchgewächsen, wie z.B. Maiglöckchen und Bärlauch. (Bild: Martin Gossner / WSL) - Download unter: https://www.wsl.ch/fileadmin/user_upload/WSL/News-WSL/2022/08_RedQueen/Lilioceris_merdigera_IMG_4817.jpg

Kontakt:

Prof. Dr. Johannes Kollmann

TUM School of Life Sciences

Professur für Renaturierungsökologie

Tel.: +49 8161 71 3498

johannes.kollmann[at]tum.de

Die Technische Universität München (TUM) ist mit mehr als 600 Professorinnen und Professoren, 48.000 Studierenden sowie 11.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine der forschungsstärksten Technischen Universitäten Europas. Ihre Schwerpunkte sind die Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Lebenswissenschaften und Medizin, verknüpft mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die TUM handelt als unternehmerische Universität, die Talente fördert und Mehrwert für die Gesellschaft schafft. Dabei profitiert sie von starken Partnern in Wissenschaft und Wirtschaft. Weltweit ist sie mit dem Campus TUM Asia in Singapur sowie Verbindungsbüros in Brüssel, Mumbai, Peking, San Francisco und São Paulo vertreten. An der TUM haben Nobelpreisträger und Erfinder wie Rudolf Diesel, Carl von Linde und Rudolf Mößbauer geforscht. 2006, 2012 und 2019 wurde sie als Exzellenzuniversität ausgezeichnet. In internationalen Rankings gehört sie regelmäßig zu den besten Universitäten Deutschlands.

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