Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Zweite große Koalition, erste Kanzlerin: Hauch der Historie haucht anderswo - Leitartikel von Ulrich Reitz
Essen (ots)
Nein, so richtig fröhlich und tatendurstig haben diese Vier gestern Abend wahrlich nicht in die Kameras geguckt. Das mag schon daran liegen, dass man dieses Quartett so bald nicht mehr gemeinsam agieren sieht, sondern gegeneinander. Von Bayern aus wird sich ein angeschlagener Stoiber ganz gewiss nicht als Stütze einer Kanzlerin Merkel erweisen. Ausgerechnet jener Frau, die er für einen Männer mordenden Geschichts-Irrtum aus Ostgotistan hält.
Die zweite große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik, die erste Bundeskanzler-Frau Deutschlands und dennoch umweht nichts Historisches diesen Beginn. Es wohnt eben doch nicht jedem Anfang ein Zauber inne.
Schon gar nicht diesem. Was vor allem daran liegt, dass in den Entscheidungen eine Richtung, von Vision gar nicht erst zu reden, nicht erkennbar wird. Die Vereinbarung enthält sozialdemokratische wie christdemokratische Elemente, wobei die beliebte Frage nach dem Sieger schon angesichts der bescheidenen Ergebnisse müßig erscheint. Oder ist das jetzt etwa der dringend nötige Aufschwung für Deutschland? Davon hat jedenfalls gestern Abend nicht ein einziger geredet weshalb auch.
Widerlegt ist jedenfalls der weit verbreitete Glaube, wonach große Koalitionen für große Lösungen stünden. Anlass zum Stöhnen haben nicht nur die Rentner, sondern auch ausgerechnet jene, die in Deutschland immer noch die meisten Arbeitsplätze und Lehrstellen schaffen: der Mittelstand.
Wie's nun weiter geht, ist dabei weitgehend offen. Denn nun sind die Parteien am Zug, danach die Fraktionen. Und da ist auch noch eine schlagkräftige, laute Lobby, die in der Lage ist, jeden noch so gut gemeinten Gesetzentwurf zu zerbröseln. Manches gerät dann womöglich sogar aus gutem Grund zwischen die Mühlsteine: etwa die angepeilte volle Besteuerung von Aktiengewinnen, die nicht nur wirtschaftlich fragwürdig ist, sondern auch sozial. Ausgerechnet jene sind gekniffen, die auf Aktien ihre Altersvorsorge aufbauen.
Ernüchternd, dass weder Rote noch Schwarze am Politikerprivileg gerüttelt haben, mit dem Geld anderer Leute Klientelpolitik zu veranstalten. Merkel hat beachtliche Kämpfer- und Steher-Qualitäten an den Tag gelegt. Und dennoch: Deutschlands erste Kanzlerin geht einen steinigen Weg.
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