"Berliner Morgenpost": Worauf wartet die Ampel?
Leitartikel von Christian Kerl zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland
Berlin (ots)
Jetzt besteht kein Zweifel mehr: Deutschland ist wieder das Sorgenkind Europas, der Bremsklotz für die wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents. Die größte Volkswirtschaft Europas schrumpft, während andere EU-Länder auf Wachstumskurs bleiben, so sagt es die EU-Kommission in ihrer aktuellen Prognose voraus. Für die nächsten Jahre sind die Aussichten vielleicht etwas besser, aber nicht gut: Die Wirtschaft wird in Deutschland mittelfristig langsamer zulegen als im ohnehin wachstumsschwachen Europa insgesamt.
Schönreden hilft nicht mehr: Die Krise ist da - und die Politik muss jetzt zügig handeln. Sicher, die deutsche Wirtschaft leidet auch deshalb mehr als andere, weil ihre exportstarke Industrie besonders hart von Chinas Problemen und einem insgesamt nachlassenden Handel getroffen wird. Aber: Das aktuell größte Hindernis sind die hohen Energiekosten, und hier ist Berlin dringend gefragt.
Nach dem Energiepreisschock zu Kriegsbeginn gehen die Preise für Strom, Öl und Gas zwar zurück - aber sie sind immer noch höher als in allen wichtigen Industrieländern. Der hohe Strompreis ist ein klarer Wettbewerbsnachteil, wie auch die EU-Kommission urteilt. Unternehmen fehlt die Planungssicherheit bei den Energiekosten, sie stoppen Investitionspläne und halten immer öfter nach Standorten außerhalb Deutschlands Ausschau. Das ist brandgefährlich. In der Ampelkoalition wird das Problem gesehen - aber sie kann sich wieder nicht auf eine Lösung einigen. Seit Monaten geht der Streit um einen befristeten Industriestrompreis. Wer diese besonders teure, aber wirksame Subvention ablehnt, muss auf andere Weise - etwa über die Senkung der Stromsteuer - dafür sorgen, dass Deutschlands Industrie nicht die Luft ausgeht.
Worauf wartet die Koalition noch? Sie muss endlich reagieren, die Lage ist ernst. Um den Wachstumsmotor dauerhaft wieder in Gang zu bringen und die schleichende Deindustrialisierung zu verhindern, braucht es allerdings mehr. Die Stimmung in den Unternehmen hat sich ebenso eingetrübt wie der Blick von außen auf unser Land: Der Standort Deutschland verliert an Attraktivität, schon ist wieder vom "kranken Mann Europas" die Rede. Der aktuelle Schrumpfkurs deckt die Schwächen auf: Die überalterte Infrastruktur, das Schneckentempo bei der Digitalisierung, Fachkräftemangel, zu viel Bürokratie. Das Land bräuchte jetzt einen neuen Aufbruch, um diese Defizite wirksam anzugehen. Aber die Ampelkoalition wirkt nach zwei Jahren des Dauerkonflikts nicht so, als hätte sie noch die Kraft dazu.
Wo angesetzt werden muss, wissen Kanzler Scholz und seine Regierung durchaus: Das Wachstumschancengesetz für mehr Investitionen etwa geht in die richtige Richtung. Aber in seiner viel zu bescheidenen Dimension ist es ein Tropfen auf den heißen Stein. Und auch der Kanzler-Vorschlag eines Deutschland-Paktes gegen den Stillstand ist nicht falsch - aber er ist, trotz der großen Worte, kein großer Wurf. Die Koalition ist wegen ihrer inneren Zerrissenheit verzagt, wo jetzt Mut und Entschlossenheit gefragt wären.
Wo bleibt das umfassende, auf das volle Jahrzehnt angelegte Programm zur Modernisierung des Landes und zur Stärkung der Wirtschaft, das neues Vertrauen schafft? Dafür müsste die Ampel ihre Prioritäten neu sortieren, statt stur den Koalitionsvertrag abzuarbeiten. Die Lage ist ja nicht aussichtslos: Deutschland hat schon viele Krisen bewältigt, es kann auch diese meistern. Es braucht nur endlich den Ruck dazu.
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