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Explosive Stimmung in Afghanistan - Umfrage von WDR/ARD, ABC News und BBC zeigt kaum Hoffnung auf einen Neuanfang
Hohe Zustimmung zu Anschlägen auf US- und NATO-Truppen

Köln (ots)

Gut sieben Jahre nach dem Sturz der Taliban hat die
Mehrheit der Afghanen die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft 
vorerst verloren. Unter der alltäglichen Erfahrung von Krieg, Gewalt,
Korruption und Armut ist auch das anfangs große Vertrauen in die USA 
und in die NATO in Resignation, Ablehnung und in wachsendem Maße Hass
umgeschlagen. Das ist das Ergebnis einer großen repräsentativen 
Umfrage, die das "Afghan Institute for Social and Public Opinion 
Research" im Auftrag von WDR/ARD, ABC und BBC durchgeführt hat.
In einem sind sich die neue US-Regierung und die afghanische 
Bevölkerung einig: Die vergangenen Jahre waren für das Land am 
Hindukush verlorene Jahre. Nur noch eine Minderheit der Afghanen (40 
%) meint, dass sich ihr Land in die richtige Richtung bewegt. Vor gut
drei Jahren waren es noch fast doppelt so viele (77 %). Ist im 
relativ ruhigen Norden vor allem die anhaltend schlechte 
Wirtschaftslage für den Stimmungsumschwung verantwortlich, belastet 
die Menschen im umkämpften Süden zusätzlich die allgegenwärtige 
Gewalt. Nach sieben Jahren Krieg stellen die Afghanen besonders den 
US- und NATO-Truppen ein vernichtendes Zeugnis aus: nur noch jeder 
Dritte (32 % ) bescheinigt ihnen eine positive Leistung - vor drei 
Jahren waren es noch 68 Prozent. Noch drastischer fällt das Bild in 
den Kriegsprovinzen aus: im Südwesten hat nur noch jeder fünfte    
(20 %) ein positives Urteil über die US- und NATO-Truppen. "Der 
Westen hat den Kampf um die Herzen und Köpfe der Afghanen erst einmal
verloren", erläutert Arnd Henze, der als stellvertretender 
Auslandschef die Umfrage für den WDR betreut hat. "Viele Jahre hatten
die Menschen nach den Schreckensjahren der Taliban auf das Prinzip 
Hoffnung gesetzt und der afghanischen Regierung und den westlichen 
Truppen einen großen Vertrauensvorschuss gegeben. Dieses Kapital an 
Geduld und Vertrauen ist aufgebraucht."
Für Verhandlungen mit Taliban
Noch profitieren die ausländischen Truppen allerdings davon, dass 
die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit (68 %)die erstarkten Taliban
für die größte Bedrohung hält. Dabei glaubt nur noch eine Minderheit 
(33 %) an einen militärischen Sieg über die Taliban. Ein weiteres 
Drittel rechnet mit einer Verhandlungslösung, jeder fünfte       (19 
%) befürchtet einen endlosen Fortgang der Kämpfe und immerhin 8 
Prozent erwarten einen Sieg der Taliban. Vor diesem Hintergrund ist 
es erklärlich, dass immer mehr Afghanen (64 %) Verhandlungen mit den 
Taliban und ihre Beteiligung an der politischen Macht befürworten.
Obamas Dilemma: Afghanen wollen nicht mehr, sondern weniger 
US-Truppen
Ohne die Hoffnung auf einen militärischen Erfolg über die Taliban 
sehen sich die Afghanen zunehmend als Opfer zwischen den Fronten. 
Landesweit berichten 43 Prozent von zivilen Opfern durch die Taliban,
34 Prozent durch USA/NATO sowie 24 Prozent durch afghanisches Militär
oder Polizei. In manchen Kriegsprovinzen wie Helmand (92 %) oder 
Kandahar (78 %) kennt inzwischen nahezu jeder zivile Opfer von 
US-Angriffen in der Umgebung. So einig sich die Afghanen in der 
Ablehnung von Luftangriffen weitgehend sind, so differenziert 
beurteilen sie die Schuld an den zivilen Opfern: 41 Prozent sehen die
Verantwortung ausschließlich bei den ausländischen Militärs, 28 
Prozent sehen die Schuld bei den Kämpfern, die unter den Zivilisten 
Schutz suchen, und ebenso viele sehen beide Seiten gleichermaßen in 
der Schuld.
In jedem Fall aber werden die ausländischen Truppen immer weniger 
als Verbündete im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind und immer 
stärker als Teil der Misere wahrgenommen. Entsprechend drängt 
erstmals eine knappe Mehrheit der Afghanen (51 %) auf einen schnellen
Abzug von USA und NATO - im umkämpften Südwesten sind es 71 Prozent. 
Dort wollen nur noch 28 Prozent die Truppen solange im Lande halten, 
bis die Sicherheit wiederhergestellt ist. Entsprechend findet sich in
Kriegsprovinzen wie Kandahar (3 %), Nangarhar (8 %) oder Helmand (9 
%) kaum jemand, der eine Aufstockung der Truppen befürwortet. Dabei 
ist die Verdoppelung der US-Truppen um weitere 30000 Soldaten derzeit
das einzig konkrete Element der neuen Strategie von US-Präsident 
Obama. Für Arnd Henze wird hier das ganze Dilemma einer zukünftigen 
Afghanistanpolitik deutlich: "Obama will zur gleichen Zeit den Krieg 
und das Vertrauen der Afghanen zurück gewinnen. Aber jede Ausweitung 
der Kämpfe bedeutet zumindest am Anfang mehr zivile Opfer. Da prallt 
dann die militärische Einschätzung des Westens mit großer Heftigkeit 
auf eine sehr harte Ablehnungsfront in der Bevölkerung und wird die 
Distanz zumindest kurzfristig eher noch vertiefen." Eine Ablehnung, 
die schon jetzt so weit geht, dass in manchen Provinzen inzwischen 
mehr als die Hälfte der Bevölkerung Anschläge auf US- und 
NATO-Soldaten für gerechtfertigt hält (auch landesweit ein deutlicher
Anstieg auf 25 %).
Sympathien für Deutschland und Iran
Während die Bevölkerung bei den ausländischen Truppen nicht 
zwischen USA, NATO und einzelnen Herkunftsländern unterscheidet, gibt
es bei der grundsätzlichen Einstellung gegenüber verschiedenen 
Ländern deutliche Unterschiede. An der Spitze der Beliebtheit steht 
Indien (74 %), am unteren Ende Pakistan, dessen Zustimmung seit 
November 2007 von 21 auf nur noch 8 Prozent gefallen ist. 
Deutschlands Ansehen ist leicht zurück gegangen (von 70 auf 61 %), 
auf 57 % gestiegen sind dagegen die Werte für den Iran. Am 
deutlichsten ist der Sympathie-Einbruch der USA: von in der 
islamischen Welt beispiellosen 83 Prozent im November 2005 über 65 
Prozent in 2007 auf nur noch 47 Prozent. Arnd Henze: "Wenn es um die 
Stabilisierung Afghanistans geht, haben der Westen und der Iran die 
gleichen Interessen. Kein Land leidet zum Beispiel so stark unter 
afghanischem Opium wie der Iran mit seinen vielen Drogenabhängigen."
Anti-Drogenkampf: nur, wenn neue Jobs geschaffen werden
Aber auch im Anti-Drogenkampf wird es schwer sein, die Bevölkerung
von einem harten Vorgehen gegen den Opiumanbau zu überzeugen. Das 
Land produziert mehr als 90 Prozent des weltweiten Rohopiums. Die 
Milliardeneinnahmen finanzieren die Aufrüstung der Taliban und 
lokaler Warlords, sichern aber auch der Bevölkerung Beschäftigung und
überdurchschnittliches Einkommen,  zu dem es derzeit keine erkennbare
Alternative gibt. So zeigt die Umfrage zwar eine grundsätzliche 
Bereitschaft, den Drogenanbau zu bekämpfen - in den sechs wichtigsten
Drogenprovinzen (u.a. Helmand und Kandahar) halten aber zweidrittel 
der Befragten den Anbau für gerechtfertigt, solange er die einzige 
Erwerbsmöglichkeit bietet. Arnd Henze: "Auch hier steht der Westen 
vor einem Dilemma: Er muss den Opiumanbau bekämpfen, ohne die 
Bevölkerung in Arbeitslosigkeit und Armut zu treiben. Und das alles 
in den am heftigsten umkämpften Provinzen das Landes, in denen die 
Stimmung gegenüber USA und NATO ohnehin schon äußerst feindselig 
ist."
So ablehnend die Stimmung gegenüber den ausländischen Truppen 
inzwischen ist, so sehr schwindend ist der Rückhalt auch für die 
einheimischen Akteure. Die Zustimmungswerte für Präsident Karsei sind
seit November 2005 von 83 auf 52 Prozent gesunken, ähnliches gilt für
die Zentralregierung (von 80 auf 49 %) und die Provinzregierungen 
(von 52 auf 46 %). Dass die Werte überhaupt noch relativ positiv 
sind, ergibt sich aus dem Mangel an Alternativen. "Es fehlt dem Land 
an Hoffnungsträgern", so Henze, "und in einem von Korruption immer 
tiefer verseuchten Staat wird sich auch nur schwer eine neue 
Führungsgeneration entwickeln können." Die Korruption halten 
inzwischen 85 Prozent der Afghanen für ein Problem (63 % sogar für 
ein "sehr großes").
Armut nimmt weiter zu, Mehrheit ohne Strom
Landesweit hat die Armut der Afghanen weiter zugenommen. Mehr als 
die Hälfte der Haushalte muss mit weniger als 100 US-Dollar im Monat 
auskommen. Nur noch ein gutes Drittel (37 %)kann sich die nötigen 
Lebensmittel zumindest teilweise leisten - dabei fehlt es auf den 
Märkten nicht an ausreichend Lebensmitteln. Noch weniger    (31 %) 
können den Preis für Öl bezahlen, das zum Heizen und zum Antrieb von 
Generatoren unverzichtbar ist. Ein wesentlicher Grund für die Armut 
ist neben steigenden Preisen der eklatante Mangel an 
Arbeitsmöglichkeiten. 70 Prozent der Afghanen sehen den Arbeitsmarkt 
negativ - hier hat es in den letzten Jahren keinerlei Verbesserungen 
gegeben. Ganz oben auf der Liste der Alltagsprobleme steht darüber 
hinaus die Stromversorgung. Sie wird von 77 Prozent als schlecht 
bewertet - eine Mehrheit der Bevölkerung (55 %) hat keinerlei Zugang 
zu Strom, ein weiteres Viertel muss mit deutlich weniger als 6 
Stunden pro Tag auskommen. Aber es gibt auch ermutigende 
Entwicklungen: Deutlich verbesserte Werte gegenüber den früheren 
Umfragen gibt es bei der Versorgung mit sauberem Wasser (jetzt 65 % 
positiv), bei den Schulen (77 %) sowie beim Ausbau der Infrastruktur 
mit Straßen und Brücken  (42 %).
Starkes Bekenntnis zu Frauenrechten
Erstaunlich breite Unterstützung bei deutlichen regionalen 
Unterschieden gibt es nach wie vor für Frauenrechte, die unter der 
Talibanherrschaft verwehrt wurden. Das Wahlrecht für Frauen und die 
Schulbildung für Mädchen wird von jeweils über 90 Prozent der 
Befragten bejaht. Berufstätigkeit von Frauen wird zwar landesweit von
77 Prozent der Afghanen unterstützt, stößt aber in ländlichen 
Gebieten weiterhin auch auf Ablehnung. Ähnliches gilt für Frauen in 
Regierungsämtern.
Insgesamt beschreibt die Umfrage eine extrem düstere Ausgangsbasis
für einen Neuanfang in Afghanistan. "Die letzte Umfrage vor 14 
Monaten hat uns das Bild von einem Land auf der Kippe zwischen 
Hoffnung und Resignation geboten.", so Arnd Henze. "Die neue 
Untersuchung bietet nur noch wenig Anknüpfungspunkte für die 
Hoffnung, dass sich die Lage schnell zum Besseren wendet."
Die Umfrage von ARD, ABC und BBC basiert auf der Befragung von 
1534 repräsentativ ausgewählten Afghanen in allen 34 Provinzen. 
Durchgeführt wurde die Studie mit fast 100 Fragen in persönlichen 
Interviews von 176 ausgebildeten Befragern in der jeweiligen 
Stammessprache - wobei Frauen nur von Frauen interviewt wurden.
WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn, der die Ergebnisse am heutigen
Montag in den ARD-Sendungen "Tagesschau" und "Tagesthemen" 
präsentieren wird, sieht in der Umfrage von ARD, ABC und BBC einen 
wichtigen Beitrag zur öffentlichen Diskussion. "Wir wissen, dass sich
auch die Planungen von Pentagon und NATO auf solche Umfragen stützen.
Deren Erkenntnisse bleiben aber vertraulich und stehen weder in den 
USA noch in Europa für die breite politische Debatte zur Verfügung. 
Eine neue Afghanistan-Strategie wird in der Bevölkerung und in den 
Parlamenten nur Rückhalt finden, wenn sie in realistischer Kenntnis 
der Herausforderungen diskutiert wird."
Hinweis: Der WDR bietet auf Anfrage detaillierte Einzelergebnisse 
sowie den kompletten Fragenkatalog an.
Bei Grafiken bitte "Quelle: WDR, ABC und BBC" angeben.

Pressekontakt:

Annette Metzinger, WDR-Pressestelle, Telefon 0221 - 220 2770
Arnd Henze, WDR-Programmgrupe Ausland Fernsehen, Telefon 0221 220
2382 oder arnd.henze@wdr.de

Original-Content von: WDR Westdeutscher Rundfunk, übermittelt durch news aktuell

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