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Landeszeitung Lüneburg: Mehr Cicero täte uns gut Der Althistoriker Martin Jehne sieht die Robustheit der alten Römer im Umgang mit Schmähungen als vorbildlich an. Interview mit der Landeszeitung Lüneburg

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Thüringens AfD-Chef Björn Höcke meint, die Bundeskanzlerin müsse "in der Zwangsjacke" aus dem Kanzleramt entfernt werden, Parteikollege Peter Boehringer hat sie in einer E-Mail als "Dirne der Fremdmächte" bezeichnet. Pegida-Anhänger attackieren sie als "Volksverräterin". Wären die Senatoren in der römischen Republik über diese Beschimpfungen entsetzt gewesen? Prof. Martin Jehne: Sie wären nicht völlig überrascht gewesen, denn der Ton damals war rau. Römische Senatoren mussten dies bis zu einem gewissen Punkt über sich ergehen lassen. Vor allem, wenn die Beschimpfungen nicht von politischer Prominenz geäußert wurden, sondern etwa von Besuchern einer Volksversammlung. Denn in der römischen Republik galt das Staatsvolk als Inkarnation des Staates selbst, hatte deshalb auch besondere Rechte. In Rom konnte der hochmögende Senator das Volk verachten, als Magistrat konnte er es durch sein Personal vom Bürgersteig verscheuchen lassen, um ihm den Weg frei zu machen, aber nicht in den Momenten, in denen Bürger ihm als Vertretung aller entgegentraten, etwa in Volksversammlungen, aber auch im Theater. Bei diesen Gelegenheiten waren die Rollen so verteilt, dass das Volk die Senatoren aufs Härteste schmähen durfte, umgekehrt war dies tabu. In der Moderne ist es natürlich fragwürdig, wenn eine Gruppe für sich reklamiert, sie sei das Volk. Dennoch erlebten wir einen Nachhall, als Sigmar Gabriel 2015 im sächsischen Heidenau von einer sehr kleinen Gruppe Fremdenhasser aufs Übelste attackiert wurde und sich dann dazu hinreißen ließ, diese als "das Pack" zu titulieren. Die Empörung über Gabriels Äußerung resultierte auch aus der Tradition, in einer Volksmenge den Souverän zu vermuten.

Die soziale Schere klaffte in der römischen Republik ähnlich auseinander wie heute... ... viel weiter!...

... War der Freibrief für das Volk, die Eliten zu diffamieren, auch eine Art Ventil - eine Art institutionalisierter Karneval? Tatsächlich hatte die Teilnahme des Volkes an der Politik auch einen Unterhaltungseffekt - es gab ja sonst nicht viel. Theateraufführungen fanden meist im Rahmen kultischer Feste statt. Sowohl die kultischen Rituale als auch die Darbietungen auf der Bühne sowie das gelegentliche Dampfablassen mit Sprechchören gegen die Mächtigen dienten dazu, dem tristen Alltag zu entfliehen. Waren die Herabsetzungen zwischen den Senatoren so regellos wie die "Hate Speech" im Internet? Das nehme ich an. Römische Senatoren warfen sich massivste Beleidigungen an den Kopf. Und in den überlieferten Quellen sehen wir nur Ausschnitte. Wenn etwa Cicero in einer Rede seinen Erzfeind Clodius, der ihn einst ins Exil getrieben hatte, attackierte, war einer seiner Standards, diesem Inzest mit seinen Brüdern und Schwestern vorzuwerfen. Überhaupt tobte sich die Beleidigungspraxis der Römer sehr gerne auf dem Felde der Sexualität aus.

Faszinierend, dass ausgerechnet Cicero, der heute als glänzender literarischer und rhetorischer Stilist gilt, auch vor der groben Keule nicht zurückschreckte... Cicero war der beste Redner seiner Zeit, aber zweifellos auch der beste Schmähredner seiner Zeit. Er war besonders schlagfertig, das war eine wichtige Qualität bei den damaligen Rededuellen vor Publikum.

Wurde im alten Rom auch über die Grenzen des Erlaubten in der Auseinandersetzung diskutiert? Klar definierte Grenzen gab es nicht, aber zumindest die Konzeption, dass das Publikum, das bei den gegenseitigen Herabsetzungen der Senatoren zugegen war, über seine Reaktionen aufzeigte, was noch akzeptabel war und was nicht. Erfolgversprechend war ein Protest gegen eine Beleidigung nur dann, wenn nicht nur der Betroffene, sondern auch das Publikum protestierte. Wir nennen dieses Kommunikationsmodell aus drei Beteiligten die "invektive Triade". Ein Muster, das auch in den sozialen Medien vorgefunden wird. Allerdings sind Fälle, in denen das Publikum dem Beleidigten beispringt, in den Quellen kaum dokumentiert. Meist herrschte Amüsiertheit vor.

Grenzen muss es aber gegeben haben, immerhin begründete Caesar den Schritt zum Bürgerkrieg mit der Verletzung seiner Ehre und seines Ranges. Interessant ist zunächst, dass er derartige Argumente ins Feld führen konnte, um einen Bürgerkrieg zu begründen. Allerdings war die Beleidigung, die Caesar geltend macht, keine, die verbal gegen ihn gerichtet wurde. Sie hatte also nichts mit den Anwürfen zu tun, unter denen er seit seiner Jugend litt, dass er nämlich ein homosexuelles Verhältnis mit König Nikomedes IV. gehabt haben soll. Das hatte Caesar äußerst humorlos abgestritten. Er fühlte sich vielmehr beleidigt, weil er für seine Siege in Gallien nicht die angemessene Anerkennung und Ehrerweisung erhalten habe.

Die Römer waren ähnlich wie heute Wiener oder Berliner stolz auf ihren ätzenden Witz. Ein Stadt-Land-Gegensatz hat also auch Tradition... In der Tat. Schon im zweiten Jahrhundert vor Christus hat der Komödiendichter Plautus Stücke auf die Bühne gebracht, in denen sich gewitzte Städter über Leute vom Lande lustig gemacht haben. Eine herablassende Haltung gegenüber dem Land gehörte offenbar zum Selbstverständnis der Städter. Hier wurde die "urbanitas" der Hauptstädter der "rusticitas" der Landbewohner gegenübergestellt. Cicero hat Rom etwa als schmähende Stadt charakterisiert. Dies aber nicht in der Haltung, dass man dies ändern müsse, sondern in einer der Resignation, in der aber auch ein bisschen Stolz mitschwingt. Ihren Witz versahen die Römer mit dem Adjektiv "scharf", das auch für ein gut gewürztes Essen verwendet wurde.

Tabu war für die Senatoren die Beschimpfung des Volkes, zumindest des Teils, der in den Volksversammlungen, der Contio oder den Comitia, präsent war. Wie ist diese Beißhemmung zu erklären angesichts der faktischen Bedeutungslosigkeit des einzelnen Bürgers gegenüber einem Mitglied der alten Familien? Das Volk wurde in den Versammlungen als Institution gesehen, nicht als Gruppe wenig imponierender Individuen. Da die formalen Beschlüsse letztlich in der Volksversammlung gefasst wurden, war das Volk also die letzte Entscheidungsinstanz. Daher mussten Senatoren das versammelte Volk mit Respekt behandeln. Wer als Senator das Volk in den öffentlichen Arenen herabsetzte, musste mit Protest, sogar mit Gewaltausbrüchen rechnen. Eine Polizei gab es nicht. Zudem wurde, wer das Volk bepöbelte, von seinen Konkurrenten verbal attackiert.

Verlor das Volk den Freibrief zum Beschimpfen im Kaiserreich, weil dieser gottgleiche Regent unberührbar war? Nicht komplett. Allerdings wurde die Schwelle erhöht. Sämtliche Grenzen fielen aber, wenn etwa das Volk hungerte. Ausbrüche gegenüber dem Kaiser waren insgesamt seltener, fanden nun eher im Theater statt als in den Volksversammlungen. Ein Grund war, dass sich die Politik nicht so widersprüchlich präsentierte wie in der Phase der Republik, wo in den Volksversammlungen konträrer debattiert wurde. Zudem war das frühe Kaisertum konstruiert wie eine Fortführung der Republik. Gehorsam wurde wegen der vermeintlich überragenden Fähigkeiten des Kaisers eingefordert, nicht per se. So kam es bei Theateraufführungen schon einmal zu Sprechchören gegen den Kaiser. Aber die Schwelle dafür war höher, weil seit Augustus eine Prätorianerkohorte im Theater bei Bedarf für Ordnung sorgte. Wenn Soldaten den Unmut ersticken mussten, war das zwar ein Prestigeverlust für den Kaiser. Doch im Angesicht der Waffen dürften viele Bürger ihren Protest eher runtergeschluckt haben.

Müssen wir im Lichte der römischen Erfahrungen die Verrohung der Sprache nicht länger als Warnsignal für die Demokratie begreifen? Wir sollten es nüchterner und gelassener sehen und uns mit mehr Härte in den Auseinandersetzungen arrangieren. Allerdings gilt es, klare Grenzen zu setzen. Was in einer Demokratie nicht geht, sind Vorwürfe mit biologistischem Hintergrund. Man darf Gruppen keine angeborenen Eigenschaften zuschreiben, um sie zu diskriminieren. Gegen einen derartigen Rassismus sind die betroffenen Menschen wehrlos. Aber die Auseinandersetzungen in den Parlamenten dürften durchaus wieder schärfer geführt werden. Eine Partei wie die AfD, die den Ton verändert hat, muss auch Konter erleben. Beleidigungen sollten Demokraten nicht auf sich sitzen lassen oder nur in Form von Empörung beantworten. Denn Rechtspopulisten integrieren ihre Anhänger über eben diese Grenzüberschreitungen. Wer robust kontert, wie etwa Martin Schulz gegenüber Alexander Gauland in der Bundestagsdebatte vom September 2018, als er die AfD verbal auf "den Misthaufen der Geschichte" warf, raubt den Populisten die notorische Siegerpose. Es gilt zu belegen, dass die Demokratie auch auf dieser Ebene eine gewisse Wehrhaftigkeit besitzt.

Wir brauchen mehr Cicero im Bundestag... ...Genau. Wenn man von dessen Obsession aufs Sexuelle absieht, würde uns ein bisschen mehr Cicero gut tun.

Zur Person

Prof. Martin Jehne (64) ist Althistoriker an der Technischen Universität Dresden. Er hat Schmähungen in der antiken Welt erforscht und zu diesen auch auf dem 52. Historikertag gesprochen.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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