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Landeszeitung Lüneburg: Völkerrechtler Prof. Luchterhandt zum russisch-ukrainischen Gas-Konflikt: Imperialer Kurs als einzige Konstante

Lüneburg (ots)

Moskau dreht der Ukraine den Gashahn zu, Putin
verkündet das Ende des "billigen Erdgases", Medwedew startet ein 
milliardenschweres Aufrüstungsprogramm. Die Schuld für die 
Finanzkrise, die Russland stärker als andere Nationen beutelt, sieht 
der Kreml in den USA. Europa muss seine politische Kultur 
exportieren, wenn Russland ein verlässlicher Partner werden soll, 
meint der renommierte Hamburger Völkerrechtler Prof. Luchterhandt.
Nirgends stürzten die Aktienkurse so stark ab wie in Russland. Das
Land wurde als erstes G-8-Mitglied in der Kreditwürdigkeit 
herabgestuft. Erhält Putin jetzt die Lektion, dass der Rechtsstaat 
kein Luxus, sondern Geschäftsgrundlage der Stabilität ist?
Prof. Otto Luchterhandt: Eine solche Sicht der Dinge wäre eine 
Überinterpretation. Die besonders starken Auswirkungen der Finanz- 
und Wirtschaftskrise gründen darin, dass Russland noch immer über 
eine Transformationsökonomie, also noch nicht über eine voll 
entwickelte Marktwirtschaft verfügt. Insbesondere das Finanzsystem 
steckt -- nach europäischen Standards -- noch in den Kinderschuhen. 
In Russland gibt es zu viele Banken ohne ausreichende Kapitaldecke 
und Reputation. Die Krise wirkt bereinigend, die Zentralbank nimmt 
viele illiquide gewordene Finanzinstitute vom Markt. Aber es gibt 
noch ein sehr ernstes, mit der Rechtsstaatsschwäche verbundenes 
Prob"lem: das ist das Misstrauen der Bürger gegenüber den ungewohnten
Institutionen des Kapitalismus und das Misstrauen des Staates 
gegenüber seinen Bürgern. Diese wechselseitige Reserviertheit ist 
eine schlechte Basis für die Bewältigung der Krise.
Wandelt sich dieses Misstrauen der Bürger in sozialen Sprengstoff 
um oder üben sich die Russen in Gleichmut?
Prof. Luchterhandt: Gleichmütig reagieren die Russen nicht, aber 
die Krise ist noch nicht in vollem Umfang in das öffentliche 
Bewusstsein gedrungen. Die Ausnahme ist der Mittelstand -- diese noch
ziemlich dünne, aber wachsende Schicht, die bereits 1998 beim 
Rubel-Crash einen Großteil der Ersparnisse eingebüßt hatte. Zwar 
erholte sich der Mittelstand in der ersten Amtszeit Putins, den 
Jahren des vom Gasexport befeuerten Booms. Nun ist der Staat 
gefordert, diese für die Entwicklung Russlands strategisch wichtige 
Schicht zu schützen. Doch oft geht es nicht über Lippenbekenntnisse 
hinaus. So weigerte sich Putin trotz Protesten insbesondere in der 
Region um Wladiwostok, die Importsteuer für ausländische Autos zu 
kippen. Diese verteuert vor allem japanische Wagen, von deren Import 
in Fernost viele leben und die Statussymbole der Mittelschicht sind. 
Die Luxuskarossen ausgerechnet der unpopulären "Oligarchen" 
unterliegen vergleichbaren Importrestriktionen dagegen nicht. Das 
schürt ebenso Konfliktpotenzial wie der massive Rückgang des 
Wohnungsbaus infolge der he"reingebrochenen Finanz- und 
Immobilienkrise und die an Unterfinanzierung und Korruption leidenden
Bereiche Gesundheit und Bildung . Infolgedessen haben sich auch die 
ohnehin starken Spannungen zwischen russischen Arbeitnehmern und 
"Gastarbeitern" -- ein deutsches Lehnwort, das Eingang in die 
russische Sprache fand --, also Arbeitsmigranten vor allem aus den 
mittelasiatischen Staaten, gefährlich erhöht.
Rechtsstaatlichen Verhältnissen wollte sich der Kreml über die 
Bekämpfung der Korruption annähern. Mit Erfolg?
Prof. Luchterhandt: Nein. Und die Erfolgsaussichten dieser von 
Präsident Medwedew nach seinem Amtsantritt gestarteten Initiative 
sind sehr gering. Er hat sicher den ehrlichen Willen und das 
Fachwissen -- er unterrichtete lange Zivilrecht an der Juristischen 
Fakultät der Universität Petersburg --, aber die historischen 
Hypotheken sind zu groß. Der Sumpf, den es trockenzulegen gilt, ist 
einfach zu gigantisch. Zwar hat Medwedew ein Gesetzespaket vorgelegt,
das systemisch ansetzt, also Gegenmaßnahmen im Staatsdienst, 
Steuerrecht, Zollwesen, bei der Entlohnung und natürlich im Straf- 
und Ordnungswidrigkeitsrecht usw. vorsieht. Aber die Komplexität des 
Phänomens einer seit Jahrhunderten verwurzelten Korruption wie auch 
das strukturelle Handicap fehlender Gewaltenteilung machen selbst 
einen mittelfristigen Erfolg eher unwahrscheinlich. Putin hat die 
unter Jelzin entstandenen Elemente von Pluralismus -- 
regierungsunabhängige Presseorgane und Fernsehprogramme, eine die 
Regierung kontrollierende Staatsduma, einen von den Regionen 
beherrschten, selbstbewussten Föderationsrat -- beseitigt oder 
marginalisiert. Im Ergebnis herrscht eine allmächtig gewordene 
Exekutive, der Beamtenapparat. Wenn Bürokraten aber die Korruption 
bekämpfen sollen, wird der Bock zum Gärtner gemacht. Das hat noch nie
funktioniert. Schließlich bilden sie das Prob"lem, nicht dessen 
Lösung. Korruption wird in Russland solange den Alltag beherrschen, 
bis der Rechtsstaat über eine funktionierende Gewaltenteilung eine 
neue Chance bekommt und durch eine erstarkende Zivilgesellschaft 
sozial unterfüttert wird .
Welche Chance auf eine Zivilisierung hat Russland, wenn Justiz und
Presse von der Exekutive an die Wand gedrückt werden?
Prof. Luchterhandt: Die Perspektiven für eine rechtsstaatliche 
Entwicklung Russlands haben sich während der zweiten Amtszeit Putins 
dramatisch verschlechtert -- und unter Medwedew nicht verbessert. 
Unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise ist der Kreml bestrebt, 
die Grundlagen des unter Putin geschaffenen, staatskapitalistischen 
Systems zu bewahren, also den strategischen Einfluss des Staates in 
der Wirtschaft zu sichern. Davon profitieren vor allem die 
Staatsunternehmen und die mit ihnen verfilzten Oligarchen. Für die 
strategische Ressource einer funktionierenden Marktwirtschaft, den 
Mittelstand, fehlt, das zeigt derzeit Putins Krisenmanagement, das 
Geld. Entwi"ckelt Russland aber keinen sich selbst tragenden 
Mittelstand, wird es kein vollwertiges G-8-Mitglied werden, 
geschweige denn bis 2020 zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht aufrücken,
wie es Putin als Ziel ausgegeben hat. Bisher ist es Russland nicht 
gelungen, die Drittwelt-Struktur seiner Wirtschaft, eines 
rohstoffproduzierenden Staates, abzulegen und das produzierende 
Gewerbe zu stärken. Im Gegenteil: Seit Beginn der Krise tendiert das 
Wachstum indus"trieller Fertigprodukte gegen Null.
Trotz Finanzkrise kündigte Medwedew ein üppiges Rüs"tungsprogramm 
an. Konnte Russland seine Abhängigkeit von der Schwerindustrie immer 
noch nicht verringern?
Prof. Luchterhandt: Ja, hierbei muss man berücksichtigen, dass die
Rüstungspolitik aufs engste mit der Außenpolitik verbunden ist. So 
knüpft Russland in Lateinamerika an alte sowjetische Kontakte an. Die
Beziehungen zu Kuba und Nicaragua werden intensiviert, ebenso die zu 
Venezuela und Bolivien, die beides wichtige Gas-Produzenten sind. 
Außenpolitik ist für den Kreml auch Rüstungsexportpolitik. Zu den 
Waffenkäufern zählen auch Nationen wie Algerien, Libyen und der Iran,
alles Staaten, die Mitglieder der Gas-OPEC sind, die am 23. Dezember 
gegründet worden ist. Hier bündeln sich die Interessen des 
Militärisch-Industriellen-Komplexes.
Putin drohte an, dass die Ära des billigen Gases vorbei sei. Wird 
Gas die neue strategische Waffe Russlands?
Prof. Luchterhandt: Wohl kaum. Dazu unterscheidet sich der 
Gas-Markt strukturell zu sehr vom Erdöl-Markt. Während letzterer von 
Angebot und Nachfrage geprägt wird, sind das Hauptkennzeichen des 
Gas-Marktes langfristige, bis zu 20 Jahre währende, bilaterale 
Lieferverträge. So gilt Deutschland einigen Experten aufgrund seiner 
Verträge mit Gazprom im Bereich Erdgas als strategisch gesichert. 
Knappheit drohte nur, wenn die Verträge einseitig aufgekündigt 
würden, wofür im Moment nichts spricht. Zudem ist der Erdgas-Preis 
mittelbar an den Ölpreis gekoppelt. Diese Verknüpfung deutet 
angesichts fallender Ölpreise im Moment nicht auf die Gefahr 
explodierender Gas-Preise hin.
Die langfristigen Lieferverträge gründen sich auf den 
physikalischen Eigenschaften von Gas, für dessen Transport Pipelines 
nötig sind. Gibt es Bestrebungen in der Gas-OPEC, den Anteil des 
Flüssiggases zu erhöhen, das mittels Tankern frei auf dem Weltmarkt 
verkauft werden kann?
Prof. Luchterhandt: Ja. Im Mai 2007 formulierten die 
Gas-Exportländer in Doha/Katar das Ziel, den Anteil des Flüssiggases 
am Export von jetzt einem Viertel deutlich zu erhöhen. Einer 
stärkeren Koordinierung dieser neuen Allianz steht allerdings die 
extreme Heterogenität ihrer Mitgliedsländer entgegen. Aber die Gefahr
einer künftigen möglichen Erpressbarkeit hängt auch von den 
Verbraucherländern ab. Erzwingt der Klimawandel eine Energiewende, 
verringert sich unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen 
drastisch.
Noch vor Amtsantritt Oba"mas rasselt der Kreml mit dem Säbel. 
Warum ist der geplante Raketenschutzschild ein solcher Stachel im 
Fleische des russischen Bären?
Prof. Luchterhandt: Das ist in der Tat rätselhaft, weil selbst 
russische Militärs einräumen, dass von der geplanten Stationierung 
von Abfangraketen in Polen für Russland keine Gefahr ausgehe. Die 
geplante Aufstellung von Raketen im Kaliningrader Gebiet muss wohl 
vor allem als außenpolitisches Warnsignal gewertet werden, nicht mehr
dem Kurs der Bush-Administration zu folgen und auf russische 
Befindlichkeiten wirklich Rücksicht zu nehmen. Anders verfuhren die 
USA aber bekanntlich im Falle der Anerkennung des Kosovo, bei ihrem 
Kurs der NATO-Ausdehnung auf den Raum der GUS, bei der Stationierung 
eigener Truppen in Mittelasien oder beim Bau von Erdölpipelines durch
den Südkaukasus zum Kaspischen Meer unter Umgehung russischen 
Gebietes.
Würde eine geschmeidigere Rhetorik Obamas den Kreml wirklich 
beruhigen oder plant dieser ein "Roll back" des
NATO-Einflusses in seinem Hinterhof?
Prof. Luchterhandt: Hier befinden sich sowohl Russland als auch 
die USA in einem Dilemma. Die Amerikaner haben eine langfristig 
angelegte Außenpolitik, zu deren Konstanten die Isolierung Irans, die
Sicherung Israels und die Stärkung der US-Position in Zentralasien 
zählen. Mit dieser Agenda wird Washington nicht auf Georgien 
verzichten wollen, als strategisch wichtiges Durchgangsland für 
Pipelines vom Kaspischen Meer nach Europa. Und das bringt die USA in 
einen unvermeidlichen Interessenkonflikt mit Russland, das auf die 
Respektierung seiner Einflusssphäre pocht. Insbesondere der 
Südkaukausus ist von fundamentaler Bedeutung, weil der russische 
Nordkaukasus immer instabiler wird. Moskau hat die historische 
Erfahrung nicht vergessen, dass bei Schwächephasen im Zentrum die 
Peripherie seiner Kontrolle entgleitet. Und in diesem Fall ist die 
NATO an den Grenzen eine ernsthafte Bedrohung für den Zusammenhalt 
des Landes, nämlich als eine Alternative, der sich die Völker der 
Peripherie anschließen können. Auch Russland denkt langfristig. Und 
die einzige Konstante seiner Politik ist seit Peter dem Großen die 
imperiale Tradition.
Gibt es für den Westen unter diesen Bedingungen eine Chance, das 
zarte Pflänzchen Rechtsstaatlichkeit in Russland zu hegen?
Prof. Luchterhandt: Unmittelbar kann der Westen gar nichts tun. 
Langfristig muss er für eine stärkere Präsenz europäischer Kultur, 
auch politischer Kultur, in Russland sorgen. Das Bewusstsein dafür 
muss vermittelt und gestärkt werden, dass Konflikte nicht mit Gewalt,
sondern rechtsstaatlich durch stabile Institutionen und geregelte 
Verfahren zu lösen sind. Das würde vor allem auch dem Mittelstand 
nützen. Diese Keimzelle einer zivilisierteren Gesellschaft muss 
gestärkt werden. Gelingt dies nicht, bleibt Russland für Europa ein 
sehr schwieriger Partner.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
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