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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zum Erfolg der Piratenpartei

Regensburg (ots)

Freiheit ohne Sicherheit?

Die Piraten sind eine perfekte Projektionsfläche für die Sorgen und Wünsche der Menschen.

Zehn Prozent aller Bundesbürger würden, wären am Sonntag Bundestagswahlen, die Piratenpartei wählen. Dabei entscheiden sich 72 Prozent dieser potenziellen Wähler nur deswegen für die Piraten, weil sie von den anderen Parteien enttäuscht sind. Das Ergebnis des aktuellen ARD-Deutschlandtrends überrascht nicht: Die Frustration über "die Politik" ist in Deutschland schon lange mehrheitsfähig, wahrscheinlich wird nur über die Pünktlichkeit des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs häufiger geschimpft als über die Politik und ihre Vertreter. Aber was wollen wir eigentlich von der Politik? Was für einen Staat wollen wir? Stark soll er sein. Wir wollen einen Staat, der uns vor Mäusekot im Brot schützt, einen Staat, der die Schlecker-Kassiererinnen nicht im Regen stehen lässt und der den Ölkonzernen auf die Finger klopft, wenn sie vor den Osterferien die Benzinpreise erhöhen. Wir wollen, dass sich der Staat um uns kümmert. Aber wir wollen dabei unsere Freiheit behalten. Wir wollen nicht, dass jeder jederzeit nachlesen kann, auf welchen Internetseiten wir gesurft sind, wir wollen beim Telefonieren mit den Liebsten gewiss sein, dass niemand zuhört. Wir wollen unser Leben beruflich und privat selbst in die Hand nehmen und dabei sicher sein vor dem sozialen Absturz wie auch vor Schaden, den uns andere zufügen. Ist es zu viel verlangt, vom Staat zu erwarten, dass er uns das ermöglicht? Schaut man tief in die gelehrten Bücher, findet man schon bei Aristoteles die Erkenntnis, dass der Mensch als soziales Wesen nur in der Gemeinschaft leben kann und dass der Staat dieser Gemeinschaft das gute, das vollkommene Leben ermöglichen soll. Wir erwarten also nicht zu viel von unserem Staat, wenn wir uns ein vollkommenes Leben wünschen. Nur: Im Alltag versteht unter dem vollkommenen Leben jeder etwas anderes. Jede Politik muss daher zwangsläufig immer Unmut bei dem einen oder eben dem anderen hervorrufen. Die Kunst der Piraten ist es, durch vollkommene Offenheit in nahezu allen relevanten Politikfeldern eine perfekte Projektionsfläche für die Sorgen und Wünsche jedes Einzelnen zu bieten. Wollen wir also einen Piratenstaat? Bisher haben die sich auf nur eines festgelegt: Sie wollen Freiheit. Downloads für alle, keine Zensur, fahrscheinlosen Nahverkehr. Das klingt prima, solange niemand hinterfragt, wessen Freiheit für die Freiheit aller geopfert werden muss. Fast könnte man denken, der Erfolg der Piraten sei der Willensausdruck des viel beschworenen Wutbürgertums, Sprachrohr des Kampfes für Partikularinteressen unabhängig vom vermeintlichen oder tatsächlichen Allgemeinwohl: Wer sich für die Legalisierung von Privatkopien von CDs, Büchern und DVDs einsetzt, mag persönlich dafür gute Gründe haben, an die Folgen für die Künstler, die Wirtschaft und die Gesamtgesellschaft denkt er weniger. Und wer kompromisslos gegen eine dritte Flughafenstartbahn, gegen Windräder oder Bahnhöfe in seiner Nachbarschaft kämpft, dem geht es dabei ebenso häufig in erster Linie um sein eigenes Wohlbefinden. Doch es gibt zwei entscheidende Unterschiede: Die einen gewinnen ihre Legitimation aus dem Mitläufertum des Unzufriedenen, die anderen sind bereit, für sich und ihre Überzeugungen zu kämpfen. Die einen verlangen vom Staat die Freiheit dafür, das zu tun, was sie wollen, die anderen erwarten vom Staat Schutz vor dem, was andere tun. Wir wollen also nicht in einem Piratenstaat leben. Denn ohne Schutz und Sicherheit für den Einzelnen kann Freiheit gar nicht denkbar sein. Die Erfolge der Piratenpartei aber sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass wir entweder den vollkommenen Staat noch nicht erreicht haben - oder aber, dass sich zu wenige Menschen darüber Gedanken machen, was sie von einem vollkommenen Staat erwarten - und was er braucht, um das leisten zu können.

Von Katia Meyer-Tien, MZ

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