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Der Tagesspiegel

Der Tagesspiegel: Der Tagesspiegel am Sonntag veröffentlicht in seiner Ausgabe vom 30.12. ein Interview mit Joschka Fischer zum Thema: Wie ich das Jahr 1968 und seine Folgen erlebte.

Berlin (ots)

Joschka Fischer, Ex-Außenminister, verdankt sein
frühes Revoluzzertum Ende der 60er Jahren auch dem Rockpoeten Bob 
Dylan. "Als ich diesen Bob Dylan das erste Mal gehört habe", sagte 
Fischer dem Tagesspiegel am Sonntag, "wuchs in mir das Gefühl eines 
weiten Landes, dieses: Lass alles hinter Dir!" Die Texte, so Fischer,
habe er zwar damals nicht wirklich verstanden, umso mehr aber die 
Botschaft der Musik. "Das hat etwas in mir zum Klingen gebracht, 
etwas, das einfach nicht mehr kompatibel war mit Öffingen oder 
Stuttgart". Fischer räumte ein, dass er seinen Eltern in jener Zeit 
viel Kummer bereitet habe. Sein Schulabbruch sei zu Hause als "die 
größte Katastrophe überhaupt" begriffen worden, seine Heirat  im 
schottischen Gretna Green als "Akt der Rebellion".  Seine Sturm- und 
Drangzeit, die ihn unter anderem auch ans Fließband zu Opel geführt 
hat, sieht der frühere Außenminister durchaus kritisch. "Die 
Vorstellung, dass man unter den Bedingungen des Rechts- und 
Sozialstaates Bundesrepublik Deutschland eine Revolution machen 
könnte, die hatte mit der Realität nicht allzu viel zu tun".  Die so 
genannte 68er Debatte kommentiert Fischer eher ironisch: "Halten wir 
fest: Die 68er sind schuld an allem, auch, dass die "Bild"-Zeitung so
ist, wie sie ist".
Unter anderem sagte Joschka Fischer:
Über die Atmosphäre jeder Zeit in Deutschland:
"Wenn Sie damals im Stuttgarter Schlossgarten auch nur den großen Zeh
auf den Rasen gesetzt haben, kam innerhalb von Minuten garantiert 
einer, der Sie angeherrscht hat. "Könned Se net sähe, des isch 
verbode!" Es herrschte eine Stickigkeit, die man sich heute gar nicht
mehr vorstellen kann. Liberalere Eltern standen, wenn sie ihre Kinder
mit Freundinnen oder Freunden zu Hause übernachten ließen, mit einem 
Bein im Gefängnis. Das galt als Kuppelei und war strafbar!"
Über sein Erweckungserlebnis mit der Musik:
"Als ich Bob Dylan zum ersten Mal gehört habe, wuchs in mir dieses 
Gefühl eines weiten Landes, dieses: Lass das alles hinter dir! Ich 
spürte die ganze Sehnsucht, auch die Tragik in seiner Musik. Die 
Texte hast du ja damals gar nicht wirklich verstanden, das war viel 
mehr die Musik. Ich bin zwar kein besonders musikalischer Mensch, das
alles aber hat etwas in mir zum Klingen gebracht, etwas, das einfach 
nicht mehr kompatibel war mit Öffingen oder Stuttgart."
Über sein Erweckungserlebnis mit Herbert Marcuses Büchern:
"Das war der Widerstand des Einzelnen gegen eine Staatsgewalt, die 
gegen ihre eigenen Grundsätze handelte und sich deswegen 
delegitimierte. Die Kritik der repressiven Toleranz, das hat die 
entscheidende Rolle gespielt. Sie fragen sich jetzt bestimmt, wie 
wird ein Junge, der in einem katholischen 
Heimatvertriebenen-CDU-Milieu aufwächst, zum Linksradikalen? Gute 
Frage. Eigentlich hätte ich vom Milieu her eher in die Junge Union 
gepasst. So kam es aber nicht."
Über seinen Versuch, durch Lesen die Welt zu verstehen:
"Ja, ich habe damals fleißig angestrichen. Das "Kapital" natürlich 
oder Kant oder die "Phänomenologie des Geistes" von Hegel. Da würden 
Sie dann die Anmerkungen und Unterstreichungen eines Lernenden sehen,
der verzweifelt versucht hat, einen Text zu durchdringen, der aber 
für mich nur schwer durchdringbar war. Ich habe 80 Prozent der 
"Phänomenologie" gelesen und festgestellt: Du hast nichts verstanden.
Ich habe mich wirklich durchgequält, und dann habe ich das Buch 
zugeklappt und vorn angefangen. Es war ein Versuch, die Welt zu 
verstehen."
Über die drei Nächte, die er 1968 im Gefängnis von Stammheim saß:
Warum mussten Sie sitzen?
"Wegen ungebührlichen Betragens vor Gericht. Ich bin nicht 
aufgestanden."
Was wurde Ihnen vorgeworfen?
"Bei einer Demonstration gegen den südvietnamesischen Botschafter, 
der zu Besuch in Stuttgart war, haben wir uns, einige wenige Leute, 
im Hof des neuen Schlosses aus Protest hingesetzt, ohne zu wissen, 
dass es so was wie eine Bannmeile gab. Wir waren uns wirklich keiner 
Schuld bewusst, schon gar nicht, damit grundsätzlich die Staatsgewalt
angegriffen zu haben. Landfriedensbruch war der Vorwurf."
In der linken Szene war es der Ritterschlag, im Knast gesessen zu 
haben.
"Nee, nee."
Was war das für eine Erfahrung?
"Ja, Gott, Spaß hat es nicht gemacht."
Über die Vorwürfe, die 68er hätten gesellschaftliche Werte 
zerstört:
"Wenn jetzt die Frage anstünde, ob man tatsächlich in die Zeit vor 68
zurückwollte, würde man auch dort mit großer Mehrheit dagegen 
stimmen. Selbst Kai Diekmann und Peter Hahne würden es in den 
deutschen Verhältnissen vor 68 nicht mehr aushalten!"
Über die Bemerkung von Otto Schily, Fischer sei eitel:
"Da erweise ich mich als gelehriger Schüler meines Meisters Otto."
Fragen richten Sie bitte an:
Der Tagesspiegel, Ressort Politik, Tel: 030-26009-389

Pressekontakt:

Der Tagesspiegel
Chef vom Dienst
Thomas Wurster
Telefon: 030-260 09-308
Fax: 030-260 09-622
cvd@tagesspiegel.de


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