Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)
Vorzeitiger EU-Beitritt: Diese Reformen müssten die Ukraine und andere Kandidatenländer umsetzen
Wien (ots)
Damit eine schnelle EU-Erweiterung gelingen kann, braucht es klare Prioritäten bei den wirtschaftlichen Reformschritten. Die Ukraine, Serbien und Montenegro verdeutlichen das.
Der Erweiterungsprozess der EU nimmt wieder Fahrt auf. Mit Montenegro und Albanien, auch der Republik Moldau und der Ukraine, könnten die Verhandlungen binnen zweier Jahre abgeschlossen sein, verlautete die EU-Kommission Anfang November. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) hat sich in einer neuen Studie im Auftrag der Kommission angesehen, wo die Probleme liegen und welche wirtschaftlichen Reformen die drei Beitrittskandidaten Ukraine, Serbien und Montenegro priorisieren sollten, um schneller der EU beitreten zu können.
Dafür wurden vor allem die Bereiche Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsmarkt und Fiskalpolitik einer eingehenden Analyse unterzogen. Um ihre Beitrittsfähigkeit besser einschätzen zu können, wurde der aktuelle Stand auf diesen Gebieten mit der Situation in Rumänien, Bulgarien und Kroatien vor deren EU-Beitritt verglichen. Darauf basierend arbeitet die Studie die notwendigen Prioritäten bei den wirtschaftlichen Beitrittskriterien (Kopenhagener Kriterien) heraus, welche die drei ausgewählten Kandidatenländer Ukraine, Serbien und Montenegro für einen raschen EU-Beitritt erfüllen müssten. Viele Experten halten eine zügige EU-Erweiterung für notwendig. „Vor dem Hintergrund der zunehmenden geopolitischen Konkurrenz zwischen den Großmächten wäre die EU gut beraten, ihre unmittelbare Nachbarschaft im Osten und Südosten durch eine rasche Erweiterungsrunde zu stabilisieren“, meint Michael Landesmann, Ökonom am wiiw sowie Initiator und Co-Autor der Studie.
Fazit der Untersuchung: In allen drei Ländern bestehen noch erhebliche ökonomische und institutionelle Defizite, die einem EU-Beitritt im Wege stehen. Grundsätzlich sollten sich diese Probleme – den notwendigen politischen Willen vorausgesetzt – aber lösen lassen. Im Rahmen eines beschleunigten Beitrittsverfahrens müssten institutionelle Reformen bei Meinungsfreiheit, Justiz und zur Korruptionsbekämpfung ebenfalls eine große Rolle spielen und von den Beitrittskandidaten irreversibel verankert werden. Im Vergleich zu früheren Erweiterungsrunden fordert die Studie, hier noch strenger zu sein, um unangenehme Überraschungen nach dem Beitritt zu vermeiden.
In Bezug auf die Ukraine mahnt das wiiw die Wiederherstellung eines zivilen öffentlichen Beschaffungswesens und unumkehrbare Reformen in der Justiz und zur Korruptionsbekämpfung nach der Aufhebung des Kriegsrechts an. Damit soll ein Wiedererstarken der Oligarchen und eine Kaperung des Staates durch Partikularinteressen verhindert werden. Für Serbien und Montenegro wird Ähnliches empfohlen, wobei Meinungs- und Medienfreiheit sowie politischer Pluralismus eine Grundbedingung für den Beitritt darstellen.
Ukraine: Strukturprobleme und Korruption als Hindernisse
Die Ukraine steht durch den andauernden russischen Überfall zwar vor besonderen Herausforderungen und wird große Unterstützung beim Wiederaufbau und der Restrukturierung ihrer hohen Staatsverschuldung benötigen. „Trotz ihrer schwachen Institutionen und den großen Defiziten bei Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung hat es große Fortschritte gegeben. Die Ukraine ist auf diesen Gebieten durchaus mit Rumänien und Bulgarien zu Beginn ihres Beitrittsprozesses vergleichbar und somit kein negativer Sonderfall. Ein EU-Beitritt der Ukraine sollte also machbar sein“, sagt Richard Grieveson, stv. Direktor des wiiw und Co-Autor der Studie.
Die größte strukturelle Schwäche der ukrainischen Wirtschaft besteht in viel zu geringen ausländischen Direktinvestitionen. Das verhindert den Aufbau international wettbewerbsfähiger Sektoren mit hoher Wertschöpfung. Wettbewerbsfähig ist die Ukraine bisher vor allem in der Land- und Forstwirtschaft, bei Lebensmitteln, in der Metallproduktion und im IT-Bereich. Rüstung oder Luftfahrt – Stichwort Drohnen – sind andere Beispiele und bieten großes Potenzial. Traditionell weist die Ukraine aber den geringsten Bestand an ausländischen Direktinvestitionen in der gesamten Region auf. „Neben der schwierigen Sicherheitslage durch den Krieg stellen mangelnde Rechtsstaatlichkeit und Korruption einen wichtigen Mitgrund für die geringen Direktinvestitionen dar, weshalb die Lösung dieser Probleme auch aus wirtschaftlicher Sicht essenziell ist“, analysiert Olga Pindyuk, Ukraine-Expertin des wiiw und Co-Autorin der Studie.
Ausländische Direktinvestitionen sind die Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung des kriegsversehrten Landes und die notwendige Einbindung in internationale Wertschöpfungsketten. Ein attraktives Investitionsklima ist dafür eine wichtige Voraussetzung. „Ähnlich wie es die EU-Mitglieder in Ostmitteleuropa sehr erfolgreich vorgemacht haben, sollte die Ukraine nach dem Krieg Industrieproduktionen westlicher Konzerne anlocken. Angesichts der guten Ausbildung der Menschen und der technologischen Innovationskraft gibt es hier große Chancen“, so Pindyuk.
Die mangelnde Diversifizierung der ukrainischen Wirtschaft stellt eine weitere Herausforderung dar. Durch den Krieg wurden viele Produktionsanlagen, die für den Aufbau einer wettbewerbsfähigen Exportwirtschaft nützlich hätten sein können, zerstört, womit sich das Problem weiter verschärft. Dazu kommt eine geringe Produktivität in vielen Sektoren und ein enormer Bevölkerungsschwund durch Krieg, Flucht und niedrige Geburtenraten. Seit 2022 haben 6,5 bis 7 Millionen Menschen das Land verlassen, sehr oft vor allem junge und hochqualifizierte Personen. Immer weniger von ihnen wollen zurück. Der daraus resultierende Arbeitskräftemangel gefährdet den Wiederaufbau und die Entwicklung nach Kriegsende. „Die ukrainische Regierung sollte in enger Kooperation mit den EU-Staaten alles daransetzen, möglichst viele Menschen zur Rückkehr zu bewegen und ihnen Perspektiven bieten“, meint Pindyuk.
Die enormen Ausgaben für den Krieg mit jährlichen Budgetdefiziten von mehr als 20% des BIP und die hohe Staatsverschuldung machen einen Schuldenerlass durch die internationalen Gläubiger unumgänglich. Problematisch sind auch die makroökonomischen Ungleichgewichte durch das hohe Handels- und Leistungsbilanzdefizit. Umso wichtiger wäre eine wettbewerbsfähige Wirtschaftsstruktur mit höheren Exporten, vor allem in technologisch anspruchsvolleren Bereichen mit höherer Wertschöpfung.
Serbien: Präsident Vučićs autoritärer Kurs als Hauptproblem
Der Beitrittskandidat Serbien steht dagegen makroökonomisch recht gut da. Die Staatsverschuldung und das Budgetdefizit bewegen sich auf einem stabilen Niveau. Das Handelsdefizit ist gering und die Exporte machen mittlerweile rund 55% des BIP aus. Die Wachstumsraten der Wirtschaft waren in den vergangenen Jahren mit rund 3% bis 4% ebenfalls zufriedenstellend. „Chinas starke wirtschaftliche Präsenz könnte sich für das Land allerdings als Stolperstein auf dem Weg in die EU erweisen, da Brüssel Peking zunehmend als geostrategischen Rivalen sieht und von China unterstütze Projekte in Serbien genauer unter die Lupe nehmen könnte“, analysiert Branimir Jovanović, Serbien-Experte des wiiw. Das Reich der Mitte avancierte in den vergangenen Jahren zum größten ausländischen Investor in Serbien und zeichnet für rund ein Drittel der ins Land strömenden ausländischen Direktinvestitionen verantwortlich. Das entspricht etwa dem Wert aller anderen EU-Staaten zusammen.
Die immer noch mangelnde Innovationskraft trotz steigender Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die ungleiche Einkommensverteilung und die hohe Armutsquote von rund 20% der Bevölkerung wirken sich ebenfalls negativ auf die Wirtschaft aus. Ein besonderes Problem stellt auch in Serbien der starke Bevölkerungsrückgang aufgrund von Migration in die EU und niedrigerer Geburtenraten dar. So schrumpfte die Einwohnerzahl in Serbien zwischen 2009 und 2023 um 700.000 Personen – von 7,3 Millionen auf 6,6 Millionen. Daraus könnte sehr bald ein ausgewachsener Arbeitskräftemangel entstehen.
„Die größte Problem auf dem Weg in die EU besteht für Serbien aber zweifellos in der geringen Motivation seines autoritären Präsidenten Aleksandar Vučić“, die für den Beitritt erforderlichen Reformen umzusetzen”, betont Jovanović. Entsprechend abgesackt ist Serbien in allen einschlägigen Rankings der Weltbank zu Rechtsstaatlichkeit, Regierungsführung und Korruptionsbekämpfung. „Wie auch die anhaltenden Proteste der Bevölkerung gegen Korruption und Vetternwirtschaft im Land zeigen, müssen diese Missstände angegangen werden“, so Jovanović.
Montenegro: Musterschüler mit Defiziten
Obwohl das kleinste Land unter den Beitrittskandidaten, ist Montenegro einem EU-Beitritt mittlerweile am nächsten gekommen. Dennoch steht auch die kleine Adriarepublik mit rund 620.000 Einwohnern immer noch vor großen Herausforderungen. Die Wirtschaft ist einseitig vom Tourismus abhängig, die Staatsverschuldung mit 124% des BIP die höchste in der ganzen Region und während der Covid-19 Pandemie schrammte man nur knapp an einer ausgewachsenen Schuldenkrise vorbei. Dazu kommen nach wie vor große Defizite in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Korruption, Regierungsführung und Verwaltung. Das Land muss in diesen Bereichen Fortschritte erzielen, wenn es die Vorteile der EU-Mitgliedschaft, die realistischerweise innerhalb der nächsten fünf Jahre zu erwarten ist, voll ausschöpfen will.
Die gesamte Studie steht hier zum Download zur Verfügung.
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