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Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)

Studie: Prioritäten und Finanzierung beim Wiederaufbau der Ukraine

Wien (ots)

Schwerpunkte: Soziales, Wohnen, Arbeit, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Unternehmen; höhere Zuschüsse der Geber, Schuldenschnitt und Reform des Steuersystems notwendig

Wie gelingt der Wiederaufbau der Ukraine und woher soll das Geld dafür kommen? Diese Frage wird von der internationalen Gemeinschaft schon seit geraumer Zeit diskutiert. Bei der großen Ukraine Recovery Conference am 21. und 22. Juni in London steht sie wieder einmal im Zentrum des Interesses. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) hat sich gemeinsam mit dem GROWFORD Institut in Kiew in einer neuen Studie angesehen, welche Schwerpunkte die ukrainische Regierung beim Wiederaufbau setzen sollte und wie seine Finanzierung längerfristig gewährleistet werden kann.

Höhere Zuschüsse, Schuldenschnitt und breitere Finanzierungsbasis

Fazit: Rund 80% des Geldes für den Wiederaufbau muss zunächst aus öffentlichen Mitteln kommen. Sie werden in der Anfangsphase von entscheidender Bedeutung sein und notwendige Anreize bieten, um private Investitionen anzuziehen, die im Laufe der Zeit eine immer wichtigere Rolle bei der wirtschaftlichen Erholung der Ukraine spielen werden. Sowohl die ukrainische Regierung als auch die internationalen Geber sind hier enorm gefordert. Zur Finanzierung schlägt die Studie unter anderem eine Ausweitung der ausländischen Zuschüsse vor, die nicht zurückgezahlt werden müssen, und zwar von 20% auf 40% und 50% der internationalen Finanzhilfen. Zudem wird eine Restrukturierung der ukrainischen Auslandsschulden und ein Schuldenerlass im Umfang von 60% empfohlen. Zur Koordinierung der Finanzflüsse in die Ukraine wird die Schaffung einer nationalen Finanzierungsagentur angeregt. Für mehr Steuergerechtigkeit und höhere öffentliche Einnahmen sollte die Ukraine eine Reform ihres Steuersystems durchführen. Empfohlen wird eine Anhebung des Sozialversicherungsbeitragssatzes sowie eine progressive Einkommenssteuer mit einem oder zwei zusätzlichen Steuersätzen zwischen 25% und 40%. „So ließen sich insgesamt Mehreinnahmen in Höhe von 3% bis 3,5 % des BIP erzielen“, rechnet Co-Autor und wiiw-Ökonom Branimir Jovanović vor.

In einem weiteren Schritt definiert die Studie Schwerpunkte und Zeitpläne für den Wiederaufbau sowie die dafür aufzuwendenden Budgetmittel für die Jahre 2023 bis 2025. Absolute Priorität kommt dem Wiederaufbau von Häusern und Wohnungen sowie der Schaffung von Arbeitsplätzen zu. „Nur wenn die Menschen wieder ein Dach über dem Kopf haben und einen Job finden, wird ein Teil der rund acht Millionen Flüchtlinge ins Land zurückkehren. Für den Wiederaufbau ist die Rückkehr möglichst vieler Menschen unerlässlich, da ansonsten ein enormer Arbeitskräftemangel droht, der die wirtschaftliche Erholung massiv beeinträchtigen könnte“, erklärt Tetiana Bogdan, wissenschaftliche Direktorin des GROWFORD Instituts in Kiew und Gastforscherin am wiiw, die gemeinsam mit wiiw-Ökonom Branimir Jovanović die vorliegende Studie verfasst hat. Aber auch die soziale Fürsorge für Kriegsopfer, der Wiederaufbau eines Sozialstaates, die Wiederherstellung der Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, der Transport- und Energieinfrastruktur, der industriellen und landwirtschaftlichen Basis, die Förderung von Klein- und Mittelbetrieben, die Minenräumung und der Ausbau der Verteidigungsindustrie müssen angegangen werden.

Soziales, Wohnen, Arbeit, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Unternehmen

Konkret empfiehlt die Studie der ukrainischen Regierung folgende Prioritätensetzung und nimmt dafür auch eine grobe Kostenschätzung der einzelnen Budgetposten (soweit möglich) für die Jahre 2023 bis 2025 vor. Diese basiert auf der Annahme anhaltender Budgetnöte und der Übernahme einiger Finanzierungsaufgaben durch ausländische Geber.

Sozialprogramme für Kriegsopfer, Kriegsveteranen, Menschen mit Behinderungen und Haushalte, die einen Angehörigen im Kampf verloren haben, sowie sozialstaatliche Leistungen müssen massiv aufgestockt werden. Pro Jahr dürften dafür Gelder im Umfang von rund 8,5% des BIP erforderlich sein. Angesichts der Budgetknappheit sollten bestehende Programme sorgfältig angepasst werden, um jeweils den bedürftigsten Menschen zu helfen.

Der Schaffung von Arbeitsplätzen kommt eine besondere Priorität zu und sollte mit aller Kraft vorangetrieben werden. Die Kosten für die erforderlichen Programme lassen sich vorerst nur schwer abschätzen. „Letztlich muss es vor allem darum gehen, die privaten Unternehmen so weit zu stärken, dass sie möglichst viele Menschen beschäftigen und wieder zum Rückgrat der ukrainischen Wirtschaft avancieren können“, erläutert Tetiana Bogdan.

Der Wiederaufbau und die Instandsetzung von Wohngebäuden und die Bereitstellung von Notunterkünften für Binnenvertriebene und Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, ist ebenfalls prioritär und wird pro Jahr rund 2% bis 2,7% des BIP kosten. Die gezielte Unterstützung der am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen sollte hier im Vordergrund stehen.

Bei der Verkehrsinfrastruktur sollte der Fokus auf der Sanierung von Straßen und Häfen, der Wiederherstellung des Schienen- und Luftverkehrs sowie der Verbesserung der Straßen- und Schienenverbindungen zur EU liegen. Dieser Bereich dürfte in den kommen Jahren mit Ausgaben von jeweils rund 3% des BIP zu Buche schlagen. Angesichts der enormen Zerstörungen bei der Verkehrsinfrastruktur in Höhe von rund 92 Milliarden US-Dollar bis Februar 2023 ist mehr ausländische Hilfe in Form von Zuschüssen, Darlehen und Garantien für den Wiederaufbau notwendig.

Beim Wiederaufbau des Bildungs- und Gesundheitssektors muss der enormen Abwanderung durch den Krieg Rechnung getragen werden. Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen sollten vorangetrieben werden, um Effizienzsteigerungen und eine höhere Qualität der öffentlichen Dienstleistungen zu erreichen. Die Finanzierung des Gesundheitswesens dürfte 2023 bis 2025 pro Jahr rund 3,5% des BIP kosten, jene des Bildungswesens etwas über 5% des BIP.

Um die Entwicklung der ukrainischen Industrie anzukurbeln, sollten internationale Geber technische und finanzielle Hilfe für die Umstrukturierung großer Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes und verwandter Branchen bereitstellen. Kreditlinien für die Modernisierung des Produktionsprozesses sind ebenfalls unerlässlich.

Die ukrainische Regierung sollte sich auf die Etablierung von Handelsfinanzierungsinstrumenten konzentrieren, um Unternehmen den Zugang zu ausländischen Absatzmärkten zu erleichtern. Zudem sollte eine Priorität auf der Bereitstellung finanzieller Unterstützung (Darlehen, Zuschüsse, Garantien) für kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) liegen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Anlagen instand zu setzen und zu modernisieren.

Besonderes Augenmerk muss die Regierung auch auf die Entminung und Rekultivierung der großen landwirtschaftlichen Flächen der Ukraine legen, um ihr Potenzial als führender Agrarproduzent wieder voll auszuschöpfen.

Die Ausweitung der Rüstungsproduktion, die Stärkung der ukrainischen Verteidigungsindustrie sowie die adäquate Dotierung der ukrainischen Streitkräfte zur Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit des Landes werden auch nach Kriegsende pro Jahr etwa 6% bis 10% Prozent des BIP kosten. Derzeit liegen die Verteidigungsausgaben bei über 20% des BIP.

Agentur für den Wiederaufbau

Für die Koordinierung der ukrainischen Wiederaufbaubemühungen und der internationalen Hilfe schlägt die Studie die Schaffung einer eigenen Agentur vor. „Ihre Kernaufgabe sollte darin bestehen, mit ausländischen Gebern zusammenzuarbeiten, um die Zeitpläne und Auszahlungen von Hilfsgeldern abzustimmen sowie ihren zweckgemäßen Einsatz sicherzustellen – wohlgemerkt unter Führung der ukrainischen Regierung“, erklärt Tetiana Bogdan und ergänzt: „Im Irak hat sich gezeigt, dass ein Wiederaufbau unter der Ägide externer Akteure nicht funktioniert, weil letztlich nur die Menschen und Behörden vor Ort seine erfolgreiche Umsetzung gewährleisten können.“

Die gesamte Studie steht hier zum Download zur Verfügung .

Sie wurde im Rahmen einer Studienreihe zum Wiederaufbau in der Ukraine mit inhaltlicher und finanzieller Unterstützung der Bertelsmann Stiftung erstellt.

Pressekontakt:

Andreas Knapp
Communications Manager
Tel. +43 680 13 42 785
knapp@wiiw.ac.at

Original-Content von: Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), übermittelt durch news aktuell

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