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Wie weiter? Leitartikel von Friedrich Roeingh zu einem Jahr Krieg in der Ukraine

Mainz (ots)

Ach könnten wir doch weiter in Zeiten leben, die nicht als historisch bezeichnet werden. Mit dem verbrecherischen Angriffskrieg auf die Ukraine haben uns Wladimir Putin und das ganz auf ihn ausgerichtete Russland stattdessen einer Geschichtsschreibung der brutalsten Art ausgesetzt. Mit einem Mal ist der Imperialismus in Gestalt eines Russofaschismus zurück. Mit einem Mal ist eine Kriegsführung zurück, die sich die Schützengräben des Ersten Weltkriegs ebenso zum Vorbild nimmt wie die vernichtende Brutalität des hitlerschen Ostfeldzuges. Was für ein schrecklicher Jahrestag. Deutschland und Europa sind zwar zum Glück nicht Kriegspartei geworden und dürfen es nicht werden. Trotzdem finden sich Deutschland und Europa mittendrin in diesem Krieg. Weil Wladimir Putin nicht nur der Ukraine den Krieg erklärt hat, sondern auch der postsowjetischen Nationenbildung, der Souveränität unserer osteuropäischen Partner, der wertebasierten Ordnung der Vereinten Nationen, dem Freiheitsstreben und der Selbstbestimmung der Menschen. In diesem Sinne sind die Ukrainer, die für ihre Freiheit und Identität ihr Leben auf dem Schlachtfeld lassen, die im Bombenhagel sterben und von russischen Truppen willkürlich exekutiert werden, auch unsere Toten.

Diese Parteinahme entbindet Deutschland und Europa, die Nato und die USA selbstverständlich nicht von der Mitverantwortung für den Fortgang und ein Ende des Krieges. So wenig erreichbar dieses Ende aktuell auch ist: Trotz des ungeheuren Leids, trotz der ungeheuren Kosten, trotz des enormen Risikos für den Weltfrieden und der Auswirkungen auf die Welternährung sind drei Dinge erreicht. Punkt 1: Wladimir Putin hat bisher keines seiner Kriegsziele erreicht. Die Ukraine ist so geeint wie nie und die russischen Verluste sind so groß wie nicht für möglich gehalten. Die EU und die Nato haben sich nicht spalten lassen, agieren so geschlossen wie selten zuvor. Stattdessen hat Putin mit diesem Krieg seine eigene politische Existenz aufs Spiel gesetzt - was eine ebenso große Gefahr wie Chance darstellt. Punkt 2: Deutschland und Europa haben das törichte Appeasement überwunden, mit dem sie Putin nach der völkerrechtswidrigen Einnahme der Krim und der kriegerischen Unterjochung von Teilen des Donbass eingeladen haben, weiterzumachen. Punkt 3: Europa und den USA ist es bei der unvermeidbaren, weil reaktiven Eskalation gelungen, nicht wie die Schlafwandler in einen Dritten Weltkrieg zu schlittern oder den Einsatz von Atomwaffen zu provozieren. Daran war die Bundesregierung, war der Bundeskanzler - zurückhaltend ausgedrückt - nicht unbeteiligt.

So irreal Frieden mit Putin aktuell ist, so wenig die Initiative Chinas einen Weg weisen wird, weil auch China Partei ist und in erster Linie einen Freifahrtschein für die Einverleibung Taiwans sucht: Natürlich wird der Frieden nicht auf dem Schlachtfeld und im Häuserkampf gewonnen, sondern eines Tages am Verhandlungstisch erreicht werden müssen. So falsch es wäre, in dieser Erkenntnis naiven Friedens-Initiativen zu folgen, die so wenig nachhaltig wie das Minsker Abkommen wären, so groß ist das Versäumnis, dass Europa und die USA nicht definieren, welche Nachkriegsordnung sie anstreben. Natürlich ist es schwierig, der Ukraine dabei nicht in den Rücken zu fallen. Deshalb muss jenseits von Sahra Wagenknecht unstrittig sein, dass die Ukraine nicht verlieren, nicht zermalmt werden darf, dass sie als souveräner Staat (militärische) Schutzgarantien braucht, die diesen Namen auch wert sind. Genauso klar kann ausgesprochen werden, dass die Sanktionen gegen Russland, die Knebelung seiner Wirtschaft nicht mit einem Friedensschluss aufgehoben werden können - sondern erst, wenn die Atommacht von ihrer imperialen Ideologie Abstand genommen hat. Das ist freilich etwas anderes als in Moskau einen Regimewechsel erzwingen oder gar die Russische Föderation zerschlagen zu wollen. So verständlich solche Fantasien aufseiten der Ukraine sind, so töricht wären sie für die Haltung des Westens.

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