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Aachener Nachrichten: Medienphänomen - Warum wird Thilo Sarrazin überhaupt beachtet; Von Joachim Zinsen

Aachen (ots)

Nein, ich habe das neue Buch von Thilo Sarrazin noch nicht gelesen, und ich werde es auch nicht lesen. Dafür ist mir einfach die Zeit zu schade. Mag sein, dass diese Haltung vorurteilsbeladen und arrogant ist. Aber egal. Seit der Lektüre von Sarrazins bekanntestem Machwerk "Deutschland schafft sich ab" steht für mich fest: Nochmals will ich nicht Gefahr laufen, mir mit völlig unausgegorener, schwer verdaulicher, ja teilweise sogar giftiger Kost den Magen zu verderben. Also Sarrazin einfach ignorieren? Wäre sicherlich das Beste, geht aber leider nicht. Denn Sarrazin ist ein Phänomen. Immer wieder schafft es der Mann auf die große mediale Bühne. Und zwar als Hauptdarsteller. Dabei besitzt Sarrazin das Charisma einer Büroklammer. Er ist weder ein sonderlich origineller Schreiber, noch ein intellektueller Ideengeber, noch ein unterhaltsamer Rhetoriker. Schon gar nicht bekleidet er eine Funktion, durch die seine Aussagen automatisch Relevanz erhalten. Trotzdem erleben wir es schon wieder: Zahlreiche Journalisten stehen bereit, um die Ergüsse des ehemaligen Bundesbankers zu protokollieren und zu kommentieren - auch an dieser Stelle. Es sind deutlich mehr als bei fast allen anderen Buchautoren. Nicht nur Sarrazins geistige Brüder vom Boulevard, auch die meisten seriösen Medien sehen sich offenbar dazu verpflichtet, auf die kruden Gedankengänge des Mannes einzugehen. Warum eigentlich? Nur, weil er platt provoziert? Nur, weil er für einen Skandal gut ist? Nur, weil er sich vor Jahren als bundesweit weitgehend unbekannter Politiker für das Rollenfach "der Bösewicht" angedient hat und dieses inzwischen nahezu perfekt ausfüllt? Dabei halten die meisten Journalisten Sarrazins Thesen für dummes Zeug. Trotzdem gehen sie ihm auf den Leim, spielen sein Spiel mit. Sarrazin ist es nämlich völlig egal, ob seine Bücher verrissen werden. Er will mit ihnen einzig und allein bereits verbreitete Ressentiments schüren und Krawall provozieren. Ist der Krawall laut genug, garantiert das selbst blassen Figuren wie ihm mediale Aufmerksamkeit. Wer genügend Aufmerksamkeit erregt, gilt dann irgendwann als wichtig. Sarrazin hat diesen Status erreicht. Deshalb entzieht sich kaum ein Medium dem vermeintlichen Zwang, ihn nicht zu beachten. Sarrazin war und ist vor allem ein Medienprodukt. Genau auf diese Medien stürzt sich Sarrazin nun in seinem neuen Buch. Er unterstellt ihnen Uniformität. Sicherlich lohnt es sich, kritisch zu reflektieren, wie in Deutschland Meinung entsteht und ob es auch unter Journalisten einen Herdentrieb gibt. Doch um darüber zu diskutieren, bedarf es keines Herrn Sarrazin. Deutlich kompetentere Autoren haben sich dazu längst Gedanken gemacht. Sarrazin kann deshalb auch dieses Mal nicht für sich in Anspruch nehmen, ein Tabu gebrochen zu haben. Schon gar nicht steht ihm die zur Schau getragene Opferrolle. Denn im Grunde genommen ist Sarrazin der lebende Beweis dafür, dass er blanken Unsinn redet, wenn er behauptet, in den deutschen Redaktionen gebe es einen "Tugendterror", existiere ein linksliberales Kartell, dass jede andere Meinung - vor allem natürlich seine eigene - unterdrücke. Gäbe es dieses Verschwörung tatsächlich, wäre seit Jahren über den ehemaligen Berliner Finanzsenator keine einzige Zeile erschienen, wären seine Bücher totgeschwiegen worden, hätte Sarrazin in jüngster Vergangenheit nicht mit populistischen Plattitüden Millionen scheffeln können.

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