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Der Tagesspiegel

Der Tagesspiegel: Vor dem SPD-Parteitag: Londons Botschafter über Labours Reformen, Lehren für Berlin - und die Lage im Irak

Berlin (ots)

Das Interview mit dem britischen Botschafter Sir
Peter Torry im Wortlaut:
Herr Botschafter, die rot-grüne Regierung hier leitet Reformen
ein, mit denen Großbritannien schon Erfahrungen hat. Etwa auf dem
Arbeitsmarkt. Ist das Ziel Vollbeschäftigung noch realistisch?
Wir haben es geschafft, die Arbeitslosigkeit auf etwa vier bis
fünf Prozent zu senken, was wir als Vollbeschäftigung ansehen. Also
war es realistisch. Generell gilt: Die deutsche Wirtschaft ist für
Europa so wichtig, dass wir uns alle wünschen, dass der begonnene
Reformprozess erfolgreich zum Abschluss gebracht wird. Ganz Europa
wird sonst leiden.
Wo hat Deutschland Nachholbedarf?
Es ist doch auffällig, dass die Menschen in Deutschland Geld
haben, es aber nicht ausgeben wollen und stattdessen sparen. Das
Problem in Deutschland ist nicht die Produktivität. Das Problem ist
der Mangel an innerem Wachstum.
Wie hat die britische sozialdemokratische Regierung dieses Problem
gelöst?
Unser Wachstum in einer weltwirtschaftlich schwierigen Lage kommt
durch Binnennachfrage zustande. Wir investieren in den Jahren 2001
bis 2006 rund 500 Milliarden britische Pfund (330 Milliarden Euro) in
die Bereiche Bildung, Verkehr und Gesundheitswesen, die lange
vernachlässigt worden waren. Wegen der historisch niedrigen Zinssätze
haben die Menschen genug Vertrauen in die Zukunft, um weiter zu
kaufen und zu investieren. Das ist ein erheblicher Konjunkturimpuls
und erklärt, warum unsere Wachstumsrate doppelt so hoch wie der
europäische Durchschnitt ist.
Ist die Labour Party auf dem Weg zu einer modernen
Sozialdemokratie schon weiter fortgeschritten als die SPD?
Wir haben mit dem Reformieren 20 Jahre früher angefangen. Wir
mussten das auch tun, weil die schwierige Lage uns gar keine Wahl
ließ. Die Herausforderung für beide Länder heißt, Liberalisierung und
Wettbewerb in Einklang zu bringen mit sozialer Gerechtigkeit. Man
könnte argumentieren, dass wir unter den Konservativen zu weit in
Richtung Wettbewerb gegangen sind und zu wenig auf soziale
Gerechtigkeit geachtet haben. Das haben wir in den letzten Jahren zu
korrigieren versucht.
Was sind die großen Umbau-Vorhaben in Großbritannien?
Die wichtigsten Elemente unserer Reformen waren die Privatisierung
der Staatsgesellschaften und die Beschneidung des
Gewerkschaftseinflusses durch gesetzliche Regelungen für Streiks. Wir
haben auch mehr Wettbewerb in den öffentlichen Sektor gebracht. Die
erfolgreichsten Reformen sind die im Bildungssystem. Wir haben für
die Schulen Wettbewerb, Transparenz und nationale Bildungsstandards
eingef ührt. Deshalb schneiden wir in der Pisa- Studie auch recht gut
ab.
Lord Palmerston sagte, Staaten haben keine Freunde, Staaten haben
nur Interessen. Sind Schröder und Blair wirklich Freunde?
Wir haben mit Berlin die engsten politischen Beziehungen, die wir
in Europa überhaupt haben. Die Beziehungen zwischen Blair und
Schröder sind sehr gut, diese Freundschaft kann sehr hilfreich sein.
Manchmal gehen unsere Interessen auseinander, wie in der
Irak-Politik. Aber weil es diese guten persönlichen Beziehungen gibt,
haben wir Verständnis für die Deutschen gehabt, und sie haben
hoffentlich verstanden, warum wir anders handelten. Es ist zwischen
unseren Regierungen dann auch nicht zu solchen Spannungen wie
zwischen Deutschland und anderen Ländern gekommen.
Würde es Großbritannien befürworten, wenn Deutschland zur
Stabilisierung der Lage im Irak auch Soldaten schickte?
Das halte ich für vollkommen unrealistisch. Wir begrüßen die
Tatsache, dass deutsche Soldaten in Afghanistan und auf dem Balkan
disloziert sind. Niemand in Gro ßbritannien kommt auf die Idee, dass
deutsche Soldaten in den Irak sollten. Das erwarten wir nicht. Wir
hoffen, dass Deutschland sich finanziell noch stärker am Wiederaufbau
des Irak beteiligen wird. Wir sehen die 200 Millionen Euro, die
Deutschland zugesagt hat, als ersten Schritt an. Wir freuen uns auch,
dass die Deutschen zugesagt haben, bei der Ausbildung irakischer
Sicherheitskräfte mitzuhelfen.
Wie will die Kriegskoalition die katastrophale Lage im Irak unter
Kontrolle bringen?
Die Medien vermitteln ein Bild vom Irak, das mit der Realität des
Landes nicht überein-stimmt. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir mit
der Sicherheitslage besonders im sunnitischen Dreieck Probleme haben.
Aber 85 Prozent des Landes leben im Frieden. Schulen und
Universitäten lehren, Strom und Wasser funktionieren besser als vor
dem Krieg, die Märkte sind voll, die Wirtschaft kommt auf Touren,
täglich werden mehr als zwei Millionen Barrel Öl gefördert. Es ist
einfacher, über Anschläge und Hubschrauber-Abschüsse zu berichten als
über den erfolgreichen Aufbau. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.
Ich bestreite energisch, dass man von einer Katastrophe oder einem
Chaos reden kann.
Inhaltliche Rückfragen richten Sie bitte an:
Der Tagesspiegel, Ressort Politik, Telefon 030/26009-389
ots-Originaltext: Der Tagesspiegel

Rückfragen bitte an:

Der Tagesspiegel
Thomas Wurster
Chef vom Dienst
Telefon: 030-260 09-419
Fax: 030-260 09-622
Email: thomas.wurster@tagesspiegel.de

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