Alle Storys
Folgen
Keine Story von Landeszeitung Lüneburg mehr verpassen.

Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg: Die Welt ist eine Scheibe Die Himmelsscheibe von Nebra ist der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur in Mitteleuropa Interview mit dem Archäologen Prof. Harald Meller

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Zunächst galt die Himmelsscheibe als Beleg, dass ein Priesterfürst Macht ausübte, indem er sich zum Herrn der Zeit aufschwang. Jetzt sehen Sie die Bronzescheibe sogar als Produkt des ersten Staats nördlich der Alpen. Woher dieser Sinneswandel?

Prof. Harald Meller: Die Himmelsscheibe war von Anfang an eine Provokation. Sie verschlüsselt auf schockierend rationale Weise eine Schaltregel, um einen taggenauen Kalender zu erstellen. Eine bäuerliche Häuptlingsgesellschaft aber, wie man sie bisher für Mitteldeutschland vor fast 4000 Jahren annahm, braucht das nicht! Also starteten wir eine Forschungsoffensive.

Welche neuen Funde stützen ihre Theorie vom frühen Staat? Durch die Entdeckung eines der größten Langhäuser der frühen Bronzezeit, vor dem ein Beilarsenal deponiert war, kam uns die Idee, dass dies ein Männerhaus sein könnte, in dem der Herrscher seine Krieger kasernierte. Daraufhin analysierten wir die vielen Waffenhortfunde. Bisher wurden sie meist als Gaben an die Götter gedeutet. Es zeigte sich, dass diese in Mengen vorliegen, die klassisch sind für militärische Einheiten. So gibt es Horte mit 30, 60, 90, 120 und 290 Beilen. Zugleich stehen die deponierten Stabdolche und Dolche dazu in einem Verhältnis, das sie als Waffen der Befehlshaber erscheinen lässt. In den Horten spiegelt sich also die militärische Hierarchie. Dann untersuchten wir die Metalllegierungen - und siehe da: Einfache Soldaten zogen mit Kupferbeilen los, Kommandeure trugen goldschimmernde Bronzewaffen. Die Hierarchisierung setzte sich in anderen Lebensbereichen fort: So war vorgeschrieben, wer welche Art von Gewandnadeln tragen durfte.

Reicht das, um von einem Staat zu sprechen? Der mitteldeutschen Aunjetitz-Kultur, von der wir hier reden, gelang es zwischen Harz, Elbe und Saale ein Territorium mit äußerst fruchtbaren Böden und idealer Handelslage zu beherrschen - und das über vier Jahrhunderte! Die Entdeckung eines gigantischen Fürstengrabs zeugt von zentralisierter Herrschaft. Im Vergleich zu den Hochkulturen an Nil, Euphrat und Tigris fehlte es an Schrift und Städten, aber die sind für staatliches Handeln nicht zwingend erforderlich.

Beilhorte als Waffenlager, dazu das bronzezeitliche Schlachtfeld im mecklenburgischen Tollensetal: Müssen wir davon ausgehen, dass es in Europa viel früher Armeen gab?

Ja, die Armee ist ein früheres Phänomen als gedacht. Noch in der Jungsteinzeit, im dritten Jahrtausend vor Christus, bildeten Schnurkeramiker und Glockenbecher-Leute Kriegerkasten aus. Doch erst die Innovation der seriellen Fertigung in der Bronzezeit ermöglichte Armeen. Mit Gussformen ließen sich standardisierte Waffen herstellen. In der Steinzeit war die Kupferverarbeitung zwar bekannt. Waffen wurden aber aus Stein gefertigt. Jede Streitaxt war ein Unikat. Wer über die Serienproduktion von Waffen gebot, häufte Reichtümer an und leistete sich Truppen, die die Schwarzerdeböden hier verteidigten, die zu den begehrtesten Landstrichen der Welt gehörte. Serienfertigung, individueller Reichtum, Staat - das ist der Anfang der modernen Welt!

Welche Handelswege kontrollierte der König vom Bornhöck?

Faszinierenderweise liegt dessen Reich noch heute im Schnittpunkt der Handelswege. Unweit des Schkeuditzer Autobahnkreuzes, wo sich die mittelalterlichen Handelswege Via Regia und Via Imperii trafen. Von hier kontrollierten die Herrscher den Nord-Süd-Handel. Sie gaben Bronze an die Nachbarn, die dafür Bernstein, Felle und Sklaven aus Skandinavien lieferten. Im Norden wurde der Bernstein so vollständig ausgebeutet, dass er dort aus dem Fundhorizont quasi verschwand. Er zirkulierte im Aunjetitzer System. Einzelne Bernstein-Colliers gerieten als Geschenke bis an den mykenischen Königshof.

Gold und Zinn aus Cornwall, Kupfer aus den Alpen. Sollte die Scheibe als Produkt der Globalisierung diese auch symbolisieren?

So dachten die Menschen damals nicht. Was zutrifft: Die Welt in Mitteldeutschland war durch zwei Einwanderungswellen geformt worden. Ab 2800 vor Christus kamen Schnurkeramiker aus der Steppe des Ostens, die wahrscheinlich die Pest mitbrachten, so dass sich Mitteldeutschland entvölkerte. Die technologisch überlegenen Glockenbecher stießen etwas später hinzu. Beide Kulturen lebten 200 Jahre nebeneinander, vermischten sich allmählich und schufen etwas Neues, den Staat von Aunjetitz.

Schlechte Nachrichten für Identitäre. Der erste Staat auf deutschem Boden war das Produkt von Zuwanderung und Globalisierung und keinesfalls ein "urgermanischer" Proto-Staat...

... in der Tat. Abstammungstheorien sind aus wissenschaftlicher Sicht absolut unsinnig. Man kann Rassismus leicht den Boden entziehen, da es biologisch keine rassischen Unterschiede zwischen den Menschen gibt. Der Gen-Mix, der heute Europa charakterisiert, besteht seit der frühen Bronzezeit. Die Glockenbecher-Leute drangen auch nach England vor und bildeten dann in Mitteldeutschland mit der Kreisgrabenanlage in Pömmelte die von Stonehenge nach - allerdings in Holz.

Der in der Nähe von Stonehenge beerdigte Bogenschütze von Amesbury wuchs in den Alpen auf und fand sich trotzdem am Avon zurecht. Wie einheitlich war die Kultur damals in Europa?

Sie war ungemein einheitlich. Wir finden Stabdolche als Würdezeichen von Portugal bis Ungarn und Schottland. Aunjetitz strahlt dabei in rätselhafter Weise weit aus. So weist die El-Argar-Kultur in Südost-Spanien ähnliche Gebäude wie auch identische, dekorlose Keramik auf. Ihr Herrscher trug das Königssymbol des goldenen Armrings. Dieses Symbol kreierten die Aunjetitzer.

Brauchen Priesterfürsten grundsätzlich Menschenopfer, um zu Priesterkönigen aufsteigen zu können?

Lange wurden die Menschenopfer in der Vorgeschichte verdrängt, weil es nicht in unser Bild von Europa passte. Derartige Brutalität wurde bei den sogenannten "Wilden" in der Südsee verortet. Finden wir Rinder, die zugleich erschlagen, stranguliert und erstochen wurden, sprechen wir von Rinderopfern. Ist dasselbe Menschen widerfahren, heißt es Sonderbestattung. Menschenopfer wie die Kinder und Frauen in den Schächten von Pömmelte scheinen für Bildung früher Staaten typisch, blickt man in den Vorderen Orient oder nach China. Allerdings hielt sich das hier nicht lange. Während das Heiligtum aufgegeben, vielleicht sogar niedergebrannt wurde, entstand in unmittelbarer Nähe, in Schönebeck, ein neues, in dem ein reiner Sonnenkult vollzogen wurde - ohne Opfer.

Mitteleuropa ist durch das Fehlen unüberwindbarer Grenzen gekennzeichnet. Keine Wüste hielt abgabepflichtige Bauern davon ab, sich dem Joch der Herrschaft zu entziehen. Welche Ideologie war stark genug, Gefolgschaft zu erzeugen?

Zwar lebten die Bauern, anders als in Ägypten, nicht in einem quasi natürlichen Käfig, dennoch flieht kein Bauer leichtherzig von der eigenen Scholle, noch dazu, wenn diese extrem ertragreich ist. Die Abgabenlast darf also nur so hoch gewesen sein, dass die Bauern ihr Auskommen fanden. Die Skelette zeigen: In der Frühbronzezeit wurden die Menschen größer als im Neolithikum, waren sehr gut genährt. Das Land war so reich, dass es leicht die Überschüsse für den Fürsten erwirtschaften konnte.

Also braucht es keine Ideologie? Doch. Hier kommt der Sonnenkult ins Spiel. Die Könige waren die Vertrauten der kosmischen Mächte. Die Himmelsscheibe beweist ja: Der Herrscher kennt die Geheimnisse des Himmels. Allerdings scheinen die Könige immer exaltierter geworden zu sein, trugen am Ende Goldwaffen wie ägyptische Pharaonen und ließen sich in Grabhügel bestatten, die eine enorme Arbeitsleistung auffraßen. Am Ende geht die soziale Schere zu weit auseinander. Möglicherweise war das ein Grund für den Untergang.

Fehlte die für Mesopotamien typische Schrift als Kennzeichen eines Staates, weil es hier keine Notwendigkeit für gesellschaftliche Kraftanstrengungen beim Kanalbau gab?

Der frühbronzezeitliche Bauer im Reich von Nebra konnte im Unterschied zu denen im Vorderen Orient seine Familie allein durchbringen. Dagegen schuf etwa der Reisanbau in Asien mit seinen komplexen Bewässerungssystemen die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gemeinschaft. Wasserbau-Gesellschaften wie in Mesopotamien waren eher kollektiv, arbeitsteilig und hierarchisch geprägt; die hiesigen dank ihrer Standortvorteile eher individualistisch. Schrift hilft ja zunächst den Herrschern, die kollektiven Arbeiten zu koordinieren und die Abgaben festzuhalten. Es war kein Zeichen von Rückständigkeit, dass die Schrift in Mitteleuropa lange abgelehnt wurde, sondern von einem alternativen, nicht-staatlichen Konzept. Übrigens finden wir hier eine mögliche Proto-Schrift auf Brotlaib-Idolen, das sind signierte Ton-Stücke, die Händler ihren Waren als Art Lieferschein mitgaben.

Wäre die Himmelsscheibe nicht bei Nebra, sondern bei Ninive gefunden worden, wäre die Welt der Archäologie zwar begeistert, aber nicht erschüttert worden. Dennoch gibt es Verbindungen zu den Hochkulturen. Wanderten das astronomische Wissen der Scheibe und der hinter der Sonnenbarke stehende Mythos im Kopf eines Reisenden mit?

In den ersten Jahren war ich in diesem Punkt skeptisch. Das hat sich durch die Materialuntersuchungen geändert, die zeigen, welch ein Fernhandelsprodukt die Himmelsscheibe ist. Hinzu kommt: Es bedarf etwa 40 Jahre Himmelsbeobachtung, um die Plejaden-Schaltregel der Scheibe zu finden, mit der sich das um elf Tage kürzere Mondjahr mit dem Sonnenjahr harmonisieren lässt. Und das beim wolkenverhangenen Himmel Mitteleuropas? Dagegen gehörte die Plejaden-Regel im Vorderen Orient zum Standardwissen der Astronomen. Es erscheint wahrscheinlicher, dass jemand dorthin reiste, als dass dieses Wissen hier entwickelt wurde. Für Kontakte sprechen viele Indizien. In der Zeit kurz nach Nebra tauchen hier blaue Glasperlen aus Ägypten und dem Vorderen Orient auf. Frappierend auch die Ähnlichkeiten der Religionen in Skandinavien und Ägypten: Da reist die Sonne per Schiff. Das erkennen wir auf der Himmelsscheibe. Eine Schiffsreligion dürfte aber schwerlich im meeresfernen Mitteldeutschland entstanden sein.

Der erste Anlauf für eine hierarchisierte Gesellschaft scheiterte. Weil ihm der vulkanische Winter nach dem Ausbruch von Santorin Legitimität und Glaubenssystem raubte?

Die entscheidende Frage der Herrschaft ist weniger, warum Menschen charismatischen Ausnahmepersönlichkeiten folgen, sondern warum sie extreme Ungleichheit auch angesichts unfähiger Königssöhne akzeptieren. Um dies zu gewährleisten, muss das Charisma von Menschen auf Gegenstände wie die Himmelsscheibe übertragen werden. Zugleich wurden die Götter zur Legitimation bemüht. Ein Herrscher, der einen Kalender erstellen konnte und damit Herr der Zeit, erschien als Günstling der himmlischen Mächte. Dieser Glaube wurde fundamental erschüttert durch einen der größten Vulkanausbrüche in der Geschichte der Menschheit, nämlich durch die Explosion Santorins. Es kam zu dramatischen Wetterereignissen. Die Bauern dürften weniger geerntet haben. Hunger delegitimiert Herrschaft, wie an der minoischen Kultur unweit Santorins ablesbar ist, wo es zu Revolten kam. In einer solchen Krise opferte man das heiligste Objekt, um die Götter milde zu stimmen - und das war die Himmelsscheibe von Nebra. Zum Glück der Archäologen nahmen die Götter das Opfer nicht an.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell

Weitere Storys: Landeszeitung Lüneburg
Weitere Storys: Landeszeitung Lüneburg