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Mittelbayerische Zeitung: Mehr als tausend Worte
Niemand will ein Bild wie das des toten Ailan sehen. Aber es ist ein Dokument der Zeitgeschichte. Leitartikel von Christine Straßer

Regensburg (ots)

Die Flüchtlingskrise hat jetzt ihr Symbolfoto. Es zeigt einen syrischen Jungen. Ailan. Drei Jahre alt. Dann kommt ein Polizist, hebt den Jungen auf und hält ihn im Arm. Leider ist das Foto nicht am Münchner Hauptbahnhof entstanden, wo Polizisten in den vergangenen Tagen auch viele Flüchtlingskinder auf den Arm genommen haben. Sie haben ihnen ihre Mütze aufgesetzt oder ein Spielzeug in die Hand gedrückt, um sie - vielleicht nur einen kurzen Moment - zum Lachen zu bringen. Ailan wird nie mehr lachen. Das Bild von ihm ist am Strand des türkischen Badeortes Bodrum aufgenommen worden. Ailan ist tot. Beim Versuch vor dem Bürgerkrieg in Syrien zu fliehen, ist das Boot, in das er mit seinem Bruder und seiner Mutter stieg, gesunken. Ailans Leiche wurde angespült. Nun entgegnen viele, man dürfe, solle oder müsse dieses Bild nicht zeigen. Es sei zu grausam, um es in der Zeitung abzudrucken. Auch unsere Redaktion hat überlegt und gezögert. Die letztlich unbestreitbar richtige Antwort auf die Frage, wie man mit dem Bild des toten Ailan umgeht, gibt es wohl nicht. Für uns gehört das Bild aber zu denen, die in ihrer brutal-emotionalen Kraft die Tragweite des Ereignisses zeigen. Auf diesen Seiten haben schon zahlreiche MZ-Redakteure über die Flüchtlingskrise geschrieben. Seit Jahren berichten wir über die Problematik, versuchen mit unseren Worten die tödlichen Folgen der Flüchtlingspolitik in der Europäischen Union begreifbar zu machen. Dieses Bild des toten Jungen bringt das alles so sehr auf den Punkt, dass es körperlich wehtut. Es ist ein Bild, das mehr als tausend Worte sagt. Ein Dokument der Zeitgeschichte. Auf den ersten Blick wirkt das Foto fast friedlich. Das rote T-Shirt, die kurze blaue Hose, die Turnschuhe. In einem Blogeintrag beschreibt der Notfall-Leiter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Peter Bouckaert, dass ihn die kleinen Turnschuhe am meisten berührt haben. Er habe an die Morgen gedacht, an denen er seinen Kindern dabei helfe, ihre Schuhe anzuziehen. Auch Ailans Mutter hat ihrem Sohn seine Schuhe sicherlich liebevoll übergestreift an jenem Morgen, als sie ihn für die gefährliche Fahrt anzog. Jeder Vater, jede Mutter könne doch gar nicht anders, als sich auszumalen, wie es wäre, wenn es das eigene Kind wäre, das da im Sand liege, schreibt Bouckaert. Er hat das Bild weiterverbreitet. Das Bild zu zeigen hat nichts damit zu tun, auf die Tränendrüse drücken zu wollen - auch wenn vielen beim Anblick des toten Ailan sicherlich die Tränen in den Augen stehen. Jedem mitfühlenden Menschen wäre es lieber, wenn er solche Bilder nicht sehen müsste. Jeder, der sagt, der Anblick ist kaum zu ertragen, hat recht. Aber die grausame Realität gar nicht mehr zu zeigen, kann doch auch keine Lösung sein? Sollen Gefühle zensiert werden? Das Bild zeigt uns doch auch, dass alle dafür dankbar sein sollten, dass sie das Glück hatten, in einem der reichsten Länder der Welt geboren worden zu sein. Das Bild führt vor Augen, warum der, der braune Nazi-Parolen verbreitet, die Klappe halten sollte. Es mag sein, dass es grausam ist, das Bild des toten Ailan zu zeigen. Noch viel grausamer ist es aber, dass in der Flüchtlingspolitik in der EU schon so lange nichts vorangeht. Wer nicht begreift, dass aus unserem Glück, hier zu leben, auch die Verpflichtung erwächst, an Europas Grenzen keine Kinder sterben zu lassen, ist tatsächlich grausam. Zu glauben, dass sich nun urplötzlich alles ändert, wäre eine Illusion. Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren ist eine große Herausforderung. Aber vielleicht beginnt die europäische Gesellschaft nun doch endlich damit, ihre Politik zu verändern.

Pressekontakt:

Mittelbayerische Zeitung
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Telefon: +49 941 / 207 6023
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