Technische Universität München
Quantentechnologien: „Technologie-Standards versprechen derzeit mehr Erfolg als Gesetze“
TECHNISCHE UNIVERSITÄT MÜNCHEN
PRESSEMITTEILUNG
Prof. Urs Gasser plädiert für ein Qualitätsmanagementsystem für Quantentechnologien
„Technologie-Standards versprechen derzeit mehr Erfolg als Gesetze“
Wie können Quantentechnologien verantwortungsvoll entwickelt werden? Wissenschaftler von Technischer Universität München (TUM), University of Cambridge, Harvard University und Stanford University plädieren im Fachmagazin Science dafür, erst internationale Standards festzulegen, bevor regulierende Gesetze erlassen werden. Prof. Urs Gasser erklärt, warum die Autoren ein Qualitätsmanagementsystem für Quantentechnologien vorschlagen, wie Standards Vertrauen schaffen und wo selbst konkurrierende Staaten wie China und die USA kooperieren.
Quantentechnologien könnten noch umwälzender wirken als Künstliche Intelligenz. Deshalb mehren sich Forderungen, anders als bei KI die technologische Entwicklung frühzeitig mit Gesetzen in gesellschaftlich verantwortungsvolle Bahnen zu lenken. Warum sehen Sie das anders?
Wir sprechen uns nicht grundsätzlich gegen eine gesetzliche Regulierung aus. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Anwendungen der Quantentechnologien konkreter absehbar sind, sollten die Gesetzgeber rote Linien ziehen, etwa für Hochrisiko-Anwendungen. In der jetzigen frühen Entwicklungsphase halten wir aber eine andere Herangehensweise für erfolgversprechender, um Ziele wie Sicherheit, Interoperabilität, Transparenz und Verantwortlichkeit zu erreichen: internationale Technologie-Standards. Darauf kann Gesetzgebung aufbauen. Also: Standards first.
Das klingt, als ob wir die komplexeste Technologie der Geschichte mit DIN-Normen in den Griff bekommen wollten.
Gerade weil die Technologie derart komplex ist, braucht es zuerst technische Standards. Bei der KI-Regulierung in Europa wird das Problem deutlich, wenn man den umgekehrten Weg einschlägt: Wir haben nun eine EU-KI-Verordnung, bei der die nächsten Jahre fieberhaft an Standards gearbeitet werden muss, um überhaupt zu verstehen, was die Verordnung meint und was Compliance in der Praxis heißt. Dies kann erhebliche Rechtsunsicherheit erzeugen und das Innovationsklima zu einem kritischen Zeitpunkt belasten.
Gibt es Vorbilder für gelungene Standardisierungen komplexer Technologien?
Zahlreiche Technologien wurden durch Standards gelenkt, auf die sich Regulierung stützen konnte. So hat beispielsweise die Internationale Organisation für Normung (ISO) mit ihren Normen zur Informationssicherheit eine wesentliche Grundlage für den Schutz sensibler Daten im digitalen Zeitalter geschaffen, was für Unternehmen aller Branchen – und damit auch für deren Kundinnen und Kunden – von entscheidender Bedeutung ist. Die Internationale Elektrotechnische Kommission (IEC) hat Sicherheitsanforderungen für medizinisch-elektrische Geräte festgelegt, um den Schutz von Patientinnen und Patienten sowie Anwenderinnen und Anwendern sicherzustellen. Und das Institut für Elektro- und Elektronikingenieure (IEEE) hat mit seinen Standards für drahtlose Netzwerke die technische Grundlage für Wi-Fi geschaffen, wodurch Geräte unterschiedlicher Hersteller nahtlos miteinander kommunizieren können. Auf ähnliche Weise können wir nun auch für Quantentechnologien Protokolle, Schnittstellen und zahlreiche technische Spezifikationen festlegen.
Welche Standardisierungsarbeiten finden schon statt und was sollte nun unternommen werden?
Bereits heute laufen vielfältige Standardisierungsprozesse auf internationaler und nationaler Ebene. ISO und IEC haben zum Beispiel Anfang 2024 das Joint Technical Committee 3 (JTC 3) gegründet, das grundlegende Standards für Quantencomputing, Quantenkommunikation und verwandte Bereiche entwickelt. Auch das IEEE, das US-amerikanische National Institute of Standards and Technology (NIST) und das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI) arbeiten an Normen zu Post-Quantum-Kryptografie, Interoperabilität, Sicherheit und Leistungsbenchmarks.
Unser Vorschlag baut darauf auf: Wir empfehlen die Einführung eines zertifizierbaren Qualitätsmanagementsystems (QMS) für Quantentechnologien. Dieses würde nicht nur technische Aspekte wie Stabilität oder Sicherheit berücksichtigen, sondern auch rechtliche, ethische und damit gesellschaftsrelevante Aspekte systematisch in Entwicklung und Betrieb integrieren. Zertifiziert wird dabei nicht das einzelne Produkt, sondern das Managementsystem des Unternehmens – ähnlich wie derzeit in der Medizintechnik. Solche Zertifikate könnten von unabhängigen, akkreditierten Stellen wie dem TÜV vergeben werden, sobald ein Standard definiert ist. Damit würde ein vertrauenswürdiger Rahmen geschaffen, der Qualität, Transparenz und Verantwortlichkeit sicherstellt.
Ist es denn angesichts des technologischen und wirtschaftlichen Wettbewerbs realistisch, dass es eine internationale Einigung auf ein solches System geben wird?
Standards ermöglichen internationale Zusammenarbeit selbst dort, wo politische Kooperation derzeit mehr schlecht als recht funktioniert – etwa zwischen China, den USA und Europa. In Gremien wie ISO, IEC oder IEEE entwickeln Fachleute weltweit anerkannte Regeln, die Vertrauen in neue Technologien schaffen und Unternehmen Sicherheit für Investitionen geben. Zudem sind Standards als sogenanntes Soft Law im Unterschied zu Gesetzen flexibler: Sie können schnell an technische Entwicklungen angepasst werden und erleichtern so Innovation, ohne Risiken aus dem Blick zu verlieren.
Ist das nicht ein sehr technokratischer Prozess ohne demokratische Legitimation?
Die Standardsetzung ist gewiss kein klassisch-demokratischer Prozess wie etwa parlamentarische Gesetzgebung. Dennoch ist sie kein abgeschottetes Expertensystem. Internationale Standardisierungsorganisationen bringen oft verschiedene Akteurinnen und Akteure zusammen – darunter Unternehmen, zivilgesellschaftliche Gruppen, Forschungsinstitute und Behörden. In nationalen Gremien, die die internationale Arbeit mitgestalten, sind unterschiedliche Interessenvertretungen oft noch stärker eingebunden. Zudem werden bei der Ausarbeitung vieler Standards heute nicht nur technische Fragen behandelt, sondern zunehmend auch ethische, soziale und rechtliche Aspekte berücksichtigt – etwa in Bereichen wie Datenschutz, Sicherheit oder Inklusion. Gerade bei Standards für Qualitätsmanagementsysteme sind gesellschaftliche Werte, Risiken und Rechte integraler Bestandteil.
Gleichzeitig gibt es berechtigte Kritik: Manche Standardisierungsprozesse sind von wirtschaftlich mächtigen Akteurinnen und Akteuren dominiert, und gesellschaftliche Perspektiven sind nicht gleichwertig vertreten. Diese Defizite sind bekannt und werden zunehmend thematisiert – etwa in aktuellen Debatten zur Entwicklung von KI-Standards in Europa, wo bewusst versucht wird, zivilgesellschaftliche Stimmen und Grundrechtsfragen stärker einzubeziehen.
Wichtig ist: Standards ersetzen keine politische Regulierung. Vielmehr können sie ihr vorausgehen und eine anschlussfähige Grundlage schaffen. Die eigentliche Regulierung bleibt Aufgabe demokratischer Institutionen, die auf dieser Basis rechtlich verbindliche Rahmenbedingungen festlegen – angepasst an nationale Kontexte und gesellschaftliche Debatten.
Zur Person:
Prof. Dr. Urs Gasser leitet den Lehrstuhl für Public Policy, Governance and Innovative Technology an der Technischen Universität München (TUM). Er ist Dekan der TUM School of Social Sciences and Technology und Rektor der Hochschule für Politik München (HfP) an der TUM. Zuvor war er Executive Director des Berkman Klein Center for Internet & Society an der Harvard University und Professor an der dortigen Harvard Law School.
https://www.professoren.tum.de/gasser-urs
Weitere Informationen:
Die weiteren Autoren des Policy Papers sind
• Mateo Aboy, Director of Research am Centre for Law, Medicine, and Life Sciences, University of Cambridge
• I. Glenn Cohen, Deputy Dean der Harvard Law School, Harvard University
• Mauritz Kop, Gründungsdirektor des Stanford Center for Responsible Quantum Technology, Stanford University
Das Thesenpapier bezieht Debattenergebnisse des Quantum Social Lab des TUM Think Tank ein und leistet zugleich einen Beitrag zum neuen Exzellenzcluster TransforM. Der TUM Think Tank bringt Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft zusammen, um gemeinsam Lösungsvorschläge und Instrumente zu drängenden Problemen zu entwickeln.
https://tumthinktank.de/project/quantum-social-lab/
Die Arbeit wurde vom International Collaborative Bioscience Innovation & Law (Inter-CeBIL) Programme gefördert, ermöglicht durch einen Novo Nordisk Foundation Grant.
Publikation:
M. Aboy, U. Gasser, I. G. Cohen, M. Kop, Quantum technology governance: A standards-first approach. Science 389 (2025). DOI: 10.1126/science.adw001
https://www.science.org/doi/10.1126/science.adw0018
Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Dr. Urs Gasser
Technische Universität München (TUM)
Lehrstuhl für Public Policy, Governance and Innovative Technology
Tel.: +49 15121919138
urs.gasser@tum.de
https://www.gov.sot.tum.de/innotech/public-policy-governance-and-innovative-technology/
Kontakt im TUM Corporate Communications Center:
Klaus Becker
Pressereferent
Tel.: +49 89 289 22798
klaus.becker@tum.de
Die Technische Universität München (TUM) ist mit rund 700 Professuren, 53.000 Studierenden und 12.000 Mitarbeitenden eine der weltweit stärksten Universitäten in Forschung, Lehre und Innovation. Ihr Fächerspektrum umfasst Informatik, Ingenieur-, Natur- und Lebenswissenschaften, Medizin, Mathematik sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Sie handelt als unternehmerische Universität und sieht sich als Tauschplatz des Wissens, offen für die Gesellschaft. An der TUM werden jährlich mehr als 70 Start-ups gegründet, im Hightech-Ökosystem München ist sie eine zentrale Akteurin. Weltweit ist sie mit dem Campus TUM Asia in Singapur sowie Büros in Brüssel, Mumbai, Peking, San Francisco und São Paulo vertreten. An der TUM haben Nobelpreisträger und Erfinderinnen und Erfinder wie Rudolf Diesel, Carl von Linde und Rudolf Mößbauer geforscht. 2006, 2012 und 2019 wurde sie als Exzellenzuniversität ausgezeichnet. In internationalen Rankings wird sie regelmäßig als beste Universität in der Europäischen Union genannt.