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75 Jahre Grundgesetz: „Das Grundgesetz ist der Boden, auf dem Freiheit und Wohlstand in der Bundesrepublik gewachsen sind“

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75 Jahre Grundgesetz: „Das Grundgesetz ist der Boden, auf dem Freiheit und Wohlstand in der Bundesrepublik gewachsen sind“

Am 23. Mai feiert das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Geburtstag. Verfassungsrechtler und ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Andreas Voßkuhle spricht im Interview über die Kerngedanken der deutschen Verfassung und darüber, wie sich Gesetzestext und Rechtsprechung im Lauf der Zeit verändert haben.

Herr Voßkuhle, schon 1948 entwarf eine von den Alliierten beauftragte Gruppe im Schloss Herrenchiemsee eine Verfassung für die Bundesrepublik. Auf dieser Grundlage entstand dann das 1949 verabschiedete Grundgesetz. Welche Hauptmotive haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes damals bewegt?

Der Beginn der Bundesrepublik Deutschland war ein Nullpunkt. Der Nationalsozialismus hatte mit dem Holocaust jegliche moralische Substanz zerstört. Nun musste man neu anfangen und tat das mit einem Konzept, das sich im ersten Entwurf des Herrenchiemseer Konvents noch besser findet als im Grundgesetz. Er beginnt mit dem Satz: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten also den einzelnen Menschen ins Zentrum der Verfassung stellen. Deshalb beginnt das Grundgesetz mit den Grundrechten und stellt die Menschenwürde an den Anfang. Und deshalb beherrscht die Idee des selbstbestimmten Menschen, den wir achten und schützen müssen, die Rechtsprechung bis heute.

Welche Teile des Grundgesetzes sind verhandelbar und welche sind für die Ewigkeit gedacht?

Es gibt im Grundgesetz eine sogenannte Ewigkeitsklausel, und zwar Artikel 79 Absatz 3. Dort steht, dass zwei Artikel ewig bestehen sollen: Zum einen Artikel 1, die Gewährleistung der Menschenwürde. Zum anderen Artikel 20, in dem die Grundsätze unserer Bundesrepublik niedergelegt sind: Das Demokratieprinzip, das Bundesstaatsprinzip, das Sozialstaatsprinzip, das Rechtsstaatsprinzip. In gewisser Weise beschreiben diese beiden Artikel die Identität unserer Verfassung.

Ursprünglich war das Grundgesetz als Provisorium gedacht. Auch heute noch hält Artikel 146 die Option fest, dass einmal „eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Wie konnte sich das Grundgesetz dauerhaft etablieren?

Richtig, zunächst galt das Grundgesetz nur für die Westzone, weshalb seine Autor*innen es nicht „Verfassung“ nannten. Bei der Wiedervereinigung hätte es die Option gegeben, in einem gemeinsamen Konvent eine neue Verfassung zu schaffen. Doch letztlich entschied man sich stattdessen für eine Beitrittslösung, bei der die neuen Bundesländer das Grundgesetz übernahmen. Das haben einige bedauert, auch ich persönlich. So ein Moment der gemeinsamen Verfassungsgebung hätte die Wiedervereinigung symbolisch stärken können.

Aktuell sehe ich allerdings keinen Anlass, über eine neue Verfassung nachzudenken. Das Grundgesetz ist der Boden, auf dem Freiheit und Wohlstand in der Bundesrepublik gewachsen sind. In gewisser Weise sind wir ein Vorzeigestaat, was unsere Verfassungskultur angeht. Und der Verfassungspatriotismus unter den Bürgerinnen und Bürgern ist immer noch sehr groß: Über 80 Prozent sprechen dem Bundesverfassungsgericht in aktuellen Umfragen ihr Vertrauen aus, was deutlich über dem Zustimmungswert anderer Verfassungsorgane liegt.

Trotzdem hat sich das Grundgesetz immer wieder verändert.

Das stimmt, im Vergleich zu anderen Verfassungen wie der japanischen oder amerikanischen hat sich das Grundgesetz mit weit über 60 Änderungsgesetzen stark verändert. Man muss sagen, dass nicht all diese Änderungen das Grundgesetz verbessert haben. So entsprang etwa das neue Asylgrundrecht in Artikel 16a einer aktuellen politischen Situation im Jahre 1993. Es ist sehr kompliziert und entkernt das ursprüngliche Asylrecht weitgehend. Gleichzeitig gab es auch eher technische Reformen, die etwa das Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern verfassungsrechtlich absichern sollten.

Wie viel Interpretationsspielraum haben die Richter*innen des Bundesverfassungsgerichts denn?

Das Grundgesetz ist eine sehr offen formulierte Verfassung. Insbesondere der Grundrechtsteil ist zunächst einmal nicht sehr aussagekräftig. Er bedient sich schöner, klarer Formulierungen, aber was jeweils genau gemeint ist, ist häufig unklar. Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert diese Rechte. Dabei baut es einerseits auf früheren Entscheidungen auf: In den vergangenen 75 Jahren sind so über 160 Bände konkretisiertes Verfassungsrecht entstanden. Andererseits sind auch immer wieder Innovationen möglich. Beispielsweise im Klimaschutzbeschluss, bei dem das Bundesverfassungsgericht den Gedanken des Grundrechtsschutzes über Generationen hinweg entwickelt hat.

Das heißt, ich bekäme auf eine Anfrage an das Bundesverfassungsgericht heute eventuell nicht die gleiche Antwort wie vor 50 Jahren?

Das kommt ganz darauf an, worum es geht. Ein schönes Beispiel dafür, wie sich die Dinge verändern können, ist die erste Entscheidung zu Paragraf 175 StGB, dem damaligen Straftatbestand für homosexuelle Tätigkeiten. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Strafrechtsnorm 1957 für verfassungsgemäß erklärt – heute würde das nicht passieren. Seit 1994 ist dieser Paragraf abgeschafft. Insofern ist die Verfassung zwar ein stabiles Fundament, muss sich aber auch weiterentwickeln und auf das reagieren, was aktuell Grundrechte gefährdet.

Müsste man das Grundgesetz noch stärker vor den Feinden der Demokratie und des Rechtsstaats schützen?

Das Grundgesetz enthält eine Reihe von Instrumentarien, die es vor seinen Feinden schützen. Zum Beispiel das Parteiverbot, das Vereinsverbot und die Möglichkeit, Grundrechte abzuerkennen. Diese Instrumente entstanden vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Machtübernahme, die die Weimarer Verfassung damals nicht verhindern konnte.

Momentan ist ein Parteiverbot der AfD im Gespräch. Ein solches Verbot hat neben der juristischen auch eine politische Dimension. Politisch ist die Frage, ob man überhaupt einen Antrag stellen möchte, während es aus juristischer Sicht darum geht, ob die Voraussetzungen für ein Verbot gegeben sind. Das Bundesverfassungsgericht spricht bei diesem Instrument von einem zweischneidigen Schwert. Schließlich wird nicht nur eine potenzielle Gefahr für die Verfassung abgewehrt, sondern es wird auch ein politischer Konkurrent ausgeschaltet.

Außerdem wird aktuell darüber diskutiert, zusätzlich die Arbeitsweise und die institutionellen Kerngedanken des Bundesverfassungsgerichts in das Grundgesetz zu schreiben; beispielsweise, dass die Amtszeit eines*einer Verfassungsrichters*Verfassungsrichterin zwölf Jahre beträgt und er*sie nicht wiedergewählt werden darf. Bisher regelt das Bundesverfassungsgerichtsgesetz diese Fragen, das der Gesetzgeber durch eine einfache Mehrheit ändern könnte. Diese Diskussion ist sicherlich wichtig, wobei ich im Augenblick keine konkrete Gefährdung des Bundesverfassungsgerichts erkennen kann.

Was wünschen Sie dem Grundgesetz für die nächsten 75 Jahre?

Ich wünsche dem Grundgesetz, dass es immer Demokrat*innen an seiner Seite hat, die sich um es kümmern und es gemeinsam mit anderen Institutionen weiterentwickeln. Und denen klar ist, was es bedeutet, eine solche Freiheitsordnung an ihrer Seite zu haben.

  • Prof. Dr. Andreas Voßkuhle ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg. Zu seinen Schwerpunkten gehören Verfassungsrecht sowie Staats- und Rechtstheorie. Von Mai 2008 bis Juni 2020 war er Richter des Bundesverfassungsgerichts. Er leitete das Gericht zunächst als Vizepräsident und ab März 2010 als Präsident. Voßkuhle ist zusammen mit Matthias Jestaedt Mitbegründer der Exzellenzclusterinitiative „Constitution as Practice in Times of Transformation (ConTrans)“ der Universität Freiburg. Weitere Informationen dazu sowie zur Freiburg Exzellenzstrategie insgesamt finden Sie hier.

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E-Mail: kommunikation@zv.uni-freiburg.de

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