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General-Anzeiger: "Die EU ist tödlich bedroht" EU-Parlamentspräsident Martin Schulz kritisiert europäische Regierungen scharf

Bonn (ots)

BONN. Wenige Tage vor dem EU-Gipfel in Brüssel hat der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, mit drastischen Worten den Zustand der EU beschrieben. "Ich glaube, dass die EU tödlich bedroht ist", sagte der SPD-Politiker in einem Interview des General-Anzeigers. Die Europäische Union habe auf breiter Front Vertrauen verloren. "Wenn sich Menschen von einem Projekt, von einer Idee abwenden, dann geht das irgendwann seinem Ende entgegen." Der britische Premierminister David Cameron habe mit seiner Drohung, über den Verbleib in der Union abstimmen zu lassen, nur "Salz in offene Wunden gestreut", sagte Schulz in dem GA-Gespräch. Schulz kritisierte vor allem die Uneinigkeit der europäischen Regierungen, wodurch die Union immer wieder blockiert werde. Die EU-Gipfel seien nicht selten Hängepartien. Wenn man sich dort aber mal einige, "was selten vorkommt", ließen sich die Staats- und Regierungschefs dafür feiern. Schulz warnte in dem Interview vor einer EU nach britischer Lesart. Die Mitgliedsländer würden zu "Spielbällen der ökonomischen und politischen Interessen anderer Weltregionen" und "in die Bedeutungslosigkeit absinken".

Das Interview im Wortlaut:

Herr Schulz, wenn Sie Arzt wären und die EU wäre ihr Patient: Wie würde Ihre aktuelle Diagnose lauten? Schulz: Ich glaube, dass die EU tödlich bedroht ist. Aber es gibt eine Reihe von erfolgsversprechenden Heilungsmöglichkeiten.

Darauf kommen wir zurück. Worin erkennen Sie die akute Gefahr? Schulz: Wenn sich Menschen von einem Projekt, von einer Idee abwenden, dann geht das irgendwann seinem Ende entgegen. Das lehrt die Erfahrung. Im Grunde stehen die Menschen ja nach wie vor zu der europäischen Idee einer grenzübergreifenden Zusammenarbeit von Völkern und Staaten. Zugleich sehen sie die EU aber immer kritischer. Wenn wir also die Idee retten wollen, müssen wir die EU umbauen. Wenn die EU nicht umgebaut und reformiert wird, wenden sich die Menschen von Europa ab. Und dann werden wir einen finsteren Nationalismus erleben.

Wie schlimm war das Gift, das der britische Premierminister David Cameron in dieser Situation dem todkranken Patienten mit seinem jüngsten Erpressungsversuch verabreicht hat? Schulz: Ich glaube nicht, dass David Cameron Gift verabreicht hat. Er hat Salz in offene Wunden gestreut. Und das hat er bewusst aus innenpolitischen Gründen getan.

Könnte die EU denn auf die stets europaskeptischen Briten nicht im Notfall ganz verzichten? Schulz: Für die EU wäre der Austritt Großbritanniens leichter zu verkraften als es für Großbritannien machbar wäre, ohne den europäischen Markt zu leben. Dennoch: Beide wären gemeinschaftlich stärker.

Beschreiben Sie bitte einmal die von Ihnen genannten "offenen Wunden". Schulz: Die Malaise der Europäischen Union besteht in dem doppelten Vertrauensverlust, den die EU erleidet. Sie verliert das Vertrauen bei den Investoren als erfolgreiche Wirtschafts- und Währungszone. Und sie verliert das Vertrauen der Bürger als die sie schützende und ihre soziale Stabilität bewahrende Macht. Das unsägliche Hin und Her in der Eurokrise ist ein unrühmliches Beispiel für Führungslosigkeit, das auf den Märkten und bei den Bürgern verheerende Wirkungen entfaltet. Die Menschen reagieren schlicht mit Angst. Sie haben den Eindruck, dass die Politik nicht weiß, wohin sie steuert.

Institutionen wie die EU-Kommission und das Europaparlament erscheinen den Menschen als weit weg, als "eurokratisch" und Wurzeln allen Übels, während der Rat der Staats- und Regierungschefs immer wieder den Karren aus dem Dreck zieht und Europa in nächtlichen Sitzungen rettet. Schulz: Das ist die Sichtweise, die die Staats- und Regierungschefs in der Öffentlichkeit gerne und leider erfolgreich vermitteln. Die meisten Probleme, die wir haben, sind auf die Uneinigkeit der Regierungen zurückzuführen und nicht auf die Uneinigkeit im Parlament. Beispiel: Die Richtlinien zur Finanzmarktregulierung sind vom Europaparlament in kürzester Zeit auf Vorschlag der Kommission verabschiedet worden. Gehangen hat es über Monate im Rat der Staats- und Regierungschefs, dem sogenannten EU-Gipfel, weil die einstimmig beschließen müssen. Wenn die sich aber einmal, was selten vorkommt, einigen, nachdem sie es zuvor zu krisenhaften Situationen haben kommen lassen, dann lassen sie sich dafür feiern.

Und an der Spitze feiert die Bundeskanzlerin. Schulz: Ich bin nicht mit allem einverstanden, was Angela Merkel tut. Aber ich bin auch dagegen, einen Regierungschef allein für das verantwortlich zu machen, was der Europäische Rat tut. Da sitzen 26 weitere Regierungschefs. Angela Merkel ist wie alle ihre Kollegen auch an der Krise beteiligt - und an den Lösungen.

Bleiben wir beim Stichwort "Lösungen". Was muss sich grundsätzlich ändern, um dem Patienten EU auf die Beine zu helfen? Schulz: Wir brauchen jetzt keine langwierigen Debatten über bestehende Verträge. Weder wird es in absehbarer Zeit eine Vertragsveränderung im Sinne David Camerons geben ...

... also eine Reduzierung Europas auf den Binnenmarkt ... Schulz: ... noch kommen demnächst die Vereinigten Staaten von Europa auf uns zu. Wir müssen mit den vorhandenen Instrumentarien des Lissaboner Vertrages klarkommen und innerhalb dieser Grenzen die EU umbauen. Wir müssen das, was in den Nationalstaaten gut oder besser gemacht werden kann, an die Nationalstaaten zurückgeben und uns in Europa aufs Wesentliche konzentrieren.

Nämlich worauf? Schulz: Auf die internationale Handelspolitik, die internationale Klimapolitik, die Regulierung der Finanzmärkte und die Bewältigung der Migrationsfragen. Das sind globale Probleme, die kein Land allein bewältigen kann.

Was passiert denn, wenn sich Camerons Vorstellung von einer deutlich begrenzteren europäischen Zusammenarbeit durchsetzt? Wäre das so schlimm? Schulz: Sicher bricht dann am nächsten Tag kein Krieg in Europa aus. Aber die EU-Mitgliedsländer würden einzeln zu Spielbällen der ökonomischen und politischen Interessen anderer Weltregionen. Wir würden in die Bedeutungslosigkeit absinken. Das würde zugleich unser Sozialmodell gefährden.

Wieso das? Schulz: David Cameron will ja auch den Euro, den er für sein Land ohnehin ablehnt, wieder abschaffen. Für Deutschland würde das bedeuten, dass eine massiv aufgewertete Mark sofort im Wettbewerb zu den Währungen Chinas, Indiens oder Brasiliens stünde. Dann träte ein, was ein klügerer Kopf einmal so beschrieben hat: Deutschland wäre für Europa zu groß und für die Welt zu klein.

Der Satz stammt vom früheren US-Außenminister Henry Kissinger. Schulz: Sehr gut.

Danke. Das nächste Europaparlament wird den Kommissionspräsidenten wählen. Welche Chance sehen Sie darin? Schulz: Ein derart demokratisch legitimierter Präsident der obersten Exekutive Europas könnte wie ein wirklicher Regierungschef agieren. Er hätte einen deutlich höheren Handlungsspielraum.

Würde Sie ein solches Amt reizen? Schulz: Das ist eine theoretische Frage, weil ich als Parlamentspräsident bis zur letzten verbliebenen Haarspitze ausgelastet bin. Insofern konzentriere ich mich auf meinen jetzigen Job, bevor ich über einen neuen nachdenke.

Ein "Nein" hört sich anders an. Was könnte denn sonst die Krönung Ihres politischen Lebens sein? Sie haben zuletzt den Friedensnobelpreis für die EU entgegennehmen dürfen. War das etwa schon mehr als ein nur vorläufiger Höhepunkt? Schulz: Warten wir es ab. Die Tatsache, dass ich als Präsident des Parlaments der europäischen Völker amtieren darf und als solcher - zufällig - den Friedensnobelpreis entgegennehmen konnte, ist sicher ein Höhepunkt in meinem politischen Leben. Ich bin für das, was ich erreicht habe, sehr dankbar.

Sie haben vor einigen Tagen in einem anderen Interview erzählt, dass Ihr Leben nicht durchgehend so glücklich verlaufen ist und sie als junger Mann arge Probleme mit dem Alkohol hatten. Wieso gehen Sie so offensiv mit diesem an sich privaten Thema um? Schulz: Ich gehe ja gar nicht offensiv damit um. Ich thematisiere das nicht oft, aber verschweige es auch nicht. Dieses Kapitel gehört zu meinem Leben dazu wie meine Erfolge. Jeder Mensch erlebt gute und schlechte Zeiten. Beides prägt eine Persönlichkeit.

Wurde Ihre damalige Alkoholsucht schon einmal politisch gegen Sie instrumentalisiert? Schulz: Nein.

Letzte Frage: Kann Macht ebenfalls süchtig, kann sie abhängig machen? Schulz: Ganz sicher. In der Versuchung bin ich aber nicht. Gleichwohl soll kein Politiker behaupten, er habe keine Lust auf Macht. Macht braucht man, um etwas umzusetzen, um politisch zu gestalten, aber ebenso die Fähigkeit zuzuhören und Kompromisse zu finden. Und es ist immer nur eine Macht auf Zeit. Das ist in einer Demokratie eine der wichtigsten Errungenschaften.

Pressekontakt:

General-Anzeiger
Michael Wrobel
Telefon: 0228 / 66 88 424
m.wrobel@ga-bonn.de

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