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Landeszeitung Lüneburg: "Ein tief greifender Mentalitätswandel"
Islamwissenschafter Prof. Dr. Thomas Bauer analysiert Situation in Ägypten und sieht einen Aufbruch in der gesamten arabischen Welt

Lüneburg (ots)

Aufstände in Tunesien und Ägypten, Demonstrationen in Algerien, "Tag des Zorns" im Jemen -- die arabische Welt ist in Aufruhr. "Die Zeit der Erstarrung und Autoritätshörigkeit ist vorbei, in der gesamten arabischen Welt ist ein tief greifender Mentalitätswandel zu beobachten", sagt Prof. Dr. Thomas Bauer von der Uni Münster im Gespräch mit unserer Zeitung. Die politischen Folgen sind schwer abzuschätzen. Aber die Zeit für Ägyptens Präsident Husni Mubarak ist längst abgelaufen, sagt Prof. Bauer.

Herr Prof. Dr. Bauer, erwarten Sie nach den blutigen Straßenkämpfen in Kairo zwischen Gegnern und Anhängern Mubaraks am Wochenende eine weitere Eskalation etwa, wenn das Militär seine bisherige Zurückhaltung aufgibt?

Prof. Dr. Thomas Bauer: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Armee ihre bisher gezeigte Zurückhaltung vollständig aufgeben wird. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ägyptische Soldaten ohne weiteres dazu zu bringen sind, auf ihre eigenen Landsleute zu schießen.

Herr Mubarak hatte in seiner Rede immer wieder betont: Chaos oder Stabilität. Wollte er den Gegnern Angst machen?

Bauer: Er wollte erreichen, dass die Gegner zuhause bleiben und seine weitere Herrschaft akzeptieren. Viele Beobachter sagen, dass bisherige Ausschreitungen und Plünderungen bewusst von der Regierung geschürt worden sind, um in einem Klima der Anarchie die Sehnsucht nach Ordnung zu wecken.

Glauben Sie, dass sich Mubarak noch bis September im Amt halten kann?

Bauer: Das kann ich mir nur sehr schwer vorstellen. Zu viele Menschen haben sich zu engagiert für seinen Rückzug ausgesprochen. Im anderen unwahrscheinlichen Fall kämen sieben weitere Monate unter Mubarak einer Agonie gleich, die Ägypten nicht zu wünschen ist.

Wer käme denn als Führer einer Übergangsregierung infrage: El Baradei oder Amre Mussa?

Bauer: Ich glaube, sie wollen gar nicht das gleiche Amt. El Baradei möchte Ministerpräsident einer Übergangsregierung werden und wäre dafür auch ein idealer Kandidat, weil er sowohl für den Westen akzeptabel ist als auch für die Muslimbrüder. Es ist auch ein Vorteil, dass er keine charismatische Figur ist, sondern eher der Diplomat und ehrliche Makler. Dies prädestiniert ihn für das Amt des Ministerpräsidenten einer Übergangsregierung. Mussa hat sich als Präsidentschaftskandidat ins Spiel gebracht und hätte meiner Meinung nach gute Chancen.

Beide sind vom Westen akzeptiert. Wie sieht es mit der Muslimbrüderschaft aus: Gehen Sie davon aus, dass sie an einer Regierung beteiligt wird?

Bauer: Im Westen herrscht eine übertriebene Islamisten-Furcht, die schon groteske Züge annimmt. Schon allein die Bezeichnung Islamist für alle politischen Kräfte, die sich auf den Islam berufen, ist ganz unangemessen. Es gibt vielmehr ein breites Spektrum. Das gilt auch für die Muslimbrüderschaft, die erkennen lassen hat, dass sie daran interessiert ist, in demokratischen Organen mitzuarbeiten. Die vielbeschworene Machtergreifung der Islamisten wird in Ägypten ganz sicher nicht stattfinden. Eine Regierungsbeteiligung der Muslimbrüder in demokratischen Institutionen ist nicht nur wahrscheinlich, sondern im höchsten Maße wünschenswert. Denn auch islamisch orientierte Parteien verändern sich durch die Mitarbeit in der Demokratie. Das zeigt das Beispiel Türkei. Es wäre zudem eine absurde Situation, wenn es in islamischen Ländern nicht auch politische Kräfte gäbe, die sich auf den Islam berufen.

Was hätte die EU in Ägypten tun können oder was hat sie versäumt?

Bauer: Die Unterstützung für die Demokratie schon in Tunesien und jetzt in Ägypten war viel zu schwach. Auch jetzt ist nur von Sorge und Befürchtungen die Rede und nirgendwo von Freude. Ich hätte nach all den Erfahrungen, die man in Europa mit dem Zusammenbruch des Kommunismus gemacht hat, wesentlich positivere Reaktionen und eine deutlichere Ermutigung der Opposition erwartet. Schließlich ist Demokratie ein großer europäischer Wert. Ich frage mich wirklich, ob die Politiker wollen, dass in zehn Jahren in arabischen Schulbüchern der Satz steht: Wir Araber mussten uns unsere Demokratie mühsam gegen den entschiedenen Widerstand des Westens erkämpfen.

Hat auch die einst von Frankreich initiierte Mittelmeerunion versagt?

Bauer: Auch in den Reihen der Mittelmeerunion hätte entschieden stärker Stellung bezogen werden müssen.

Die arabischen Länder verbindet, dass der Bevölkerungsanteil der unter 25-Jährigen bei rund 50 Prozent liegt. Erwarten Sie auch aus dieser Sicht Dominoeffekte in weiteren arabischen Ländern?

Bauer: In der gesamten arabischen Welt ist ein tief greifender Mentalitätswandel zu beobachten. Ich sage gerne leicht scherzhaft, der arabischen Welt fehlte nicht die Aufklärung, die inzwischen Allgemeingut in der Welt geworden ist, sondern die 68er-Revolte. Bisher herrschte ein unglaubliches Klima der Erstarrung, eine Autoritätshörigkeit. Alte Meinungen wurden nie infrage gestellt. Doch wenn jetzt ein junger Mann auf die Straße geht und zu dem Staatsoberhaupt, dem Landesvater und Kriegshelden Mubarak ganz respektlos sagt "Zisch ab!", dann zeigt sich darin ein Mentalitätswandel, der zu einem Aufbruch in der gesamten arabischen Welt führt. Was das für politische Folgen in den einzelnen Ländern haben wird, lässt sich nur schwer vorhersagen.

Welche Rolle würde Syrien spielen, wenn der Dominoeffekt auf weitere arabische Länder übergreift und Muslimbrüder an den Regierungen beteiligt werden? Schließlich wurde 1982 in Syrien ein Aufstand der Muslimbrüder brutal niedergeschlagen, es gab mehr als 10.000 Tote. Ist da noch eine Rechnung offen?

Bauer: Ich würde nicht immer wie ein Kaninchen auf die Schlange auf Muslimbrüder starren: Eine islamistische Machtübernahme ist in keinem der Länder zu erwarten. Syrien ist eine schlimme Unterdrückungsdiktatur. Der Wes"ten betrachtet Syrien als feindliches Land und müsste wenigs"tens da froh sein, wenn es zu einem Wandel käme. Bisher scheinen die Unterdrückungsmaßnahmen des syrischen Regimes noch gut zu funktionieren. Aber auch hier wird der Mentalitätswandel auf Dauer dazu führen, dass es Veränderungen in Syrien geben muss.

Welche Rolle haben die neuen Medien bei den Protes"ten in Tunesien und Ägypten gespielt?

Bauer: Bei der Organisation der Proteste hat das Internet sicherlich eine größere Rolle gespielt. Aber man darf auch nicht vergessen, dass die Zahl der Menschen, die dort über einen Internetanschluss verfügen, geringer ist als bei uns.

Sie haben das Beispiel der Türkei genannt. Dort gibt es aber die Trennung von Staat und Religion. Die Muslimbrüder sind aber gegen eine Trennung und für eine Einführung der Scharia.

Bauer: Zum einen: Man kann die Scharia in Gänze nicht einfach einführen, sondern man müsste einzelne Vorschriften über einen normalen Gesetzgebungsprozess einführen. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem der Länder, in denen jetzt protestiert wird, Händeabhacken als Strafe zur Regel wird, ist gleich null. Die Menschen, die jetzt protestieren, wollen keinen strengen religiösen Staat. Zum anderen ist die Scharia schon jetzt Quelle der Gesetzgebung. Unter Mubarak hat bereits eine Islamisierung stattgefunden, um den Muslimbrüdern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ich glaube, dass selbst die Beteiligung der Muslimbrüder an einer Regierung nicht zu einer radikalen Islamisierung des Landes beitragen würde, sondern deren Hauptanliegen eher der soziale Bereich ist. Zudem haben viele der anderen Oppositionsparteien einen säkularen Zuschnitt.

Glauben Sie, dass der von Ihnen angesprochene Mentalitätswandel in der arabischen Welt zur Lösung des Nahost-Konfliktes beitragen wird?

Bauer: Derzeit ist der sogenannte Friedensprozess vollständig erstarrt. Dank der Papiere, die Al Dschasira veröffentlicht hat, wissen wir, dass die Paläs"tinenser vor einem Jahr bereit waren, bis zur Selbstaufgabe den Israelis entgegenzukommen. Israel hat sich aber geweigert, sich auch nur ein kleines Stück zu bewegen. Das Einzige, was sich bewegte, waren die Bagger und Kräne, mit denen man Siedlungen baut. Diese Situation wird sich aber -- das hat auch die Bundeskanzlerin betont, als sie von einer Scheinruhe sprach -- nicht ewig durchhalten lassen. Das kann auch nicht im Interesse Israels sein. Wenn zum Beispiel eine demokratische Regierung in Ägypten die Blockade des Gazastreifens infrage stellt, wäre das eine positive Entwicklung, weil Israel gezwungen wäre, über grundsätzliche Dinge zu reden und sich seinerseits zu verändern.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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