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Mittelbayerische Zeitung: Ein Papiertiger
Bei Vaterschaftsklagen dürfen Tests nicht nur auf die rechtliche Familie begrenzt werden. Leitartikel von Katia Meyer-Tien

Regensburg (ots)

Das Wissen um die eigene Herkunft, betont der Berufsverband der deutschen Psychologen in einer aktuellen Stellungnahme, ist wesentlich für die Identitätsbildung. Denn Identitätsbildung, so heißt es da, sei ein lebenslanger Entwicklungsprozess, bei dem der Mensch eine Zukunft vor sich und eine Geschichte hinter sich wissen müsse. Auch das deutsche Recht hat das schon lange anerkannt: Artikel zwei des Grundgesetzes garantiert jedem das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Zu dieser freien Entfaltung gehört juristisch unbestritten und in mehreren Urteilen bestätigt das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung, das direkt aus diesem Artikel abgeleitet werden kann. Das Recht zu wissen, wer die eigenen biologischen Eltern sind, hat damit indirekt Verfassungsrang. Und wird in Deutschland so hoch geschätzt, dass der Bundesgerichtshof im November 2014 sogar der Exhumierung eines Mannes zustimmte, damit ein Gentest seine mögliche Vaterschaft klären konnte. Auch im Fall von Samenspenden gibt es mittlerweile Gerichtsurteile, die den Kindern das Recht einräumen, die Unterlagen über ihre biologischen Eltern einzusehen. Im Fall der Frau aus Nordrhein-Westfalen, die einen Mann, den sie für ihren Vater hält, zum Gentest zwingen wollte, hat das Bundesverfassungsgericht nun die Grenzen des geltenden Rechts aufgezeigt. Die sieht es in den Persönlichkeitsrechten des vermeintlichen Vaters: Dessen Recht auf Privat- und Intimsphäre sei bedroht, wenn er geschlechtliche Beziehungen offenbaren müsse. Sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf körperliche Unversehrtheit sehen die Richter tangiert, wenn er einen unfreiwilligen Gentest machen müsse, sein Familienleben wie auch das der übrigen Mitglieder der Familie der Klägerin sehen sie gefährdet. All das sind Bereiche, die ebenfalls durch das Grundgesetz geschützt sind. Mit seiner Entscheidung stellt das Bundesverfassungsgericht nun abwägend diese Persönlichkeitsrechte des vermeintlichen Vaters über die der klagenden Frau. Und mit der Vermeidung der Schaffung eines Präzedenzfalls geht es sogar noch weiter. In der Urteilsbegründung erklären die Richter, die Ermöglichung der isolierten Abstammungsklärung zwischen Personen, die nicht durch ein rechtliches Eltern-Kind-Verhältnis verbunden sind, gehe mit der Gefahr einher, dass Abstammungsuntersuchungen "ins Blaue" hinein erfolgen. Und tatsächlich erscheint ja der Gedanke, jeder könne irgendwann jeden auf Durchführung eines Gentests verklagen, absurd und beängstigend. Andererseits: Im vorliegenden Fall gibt es einige Indizien, die dafür sprechen, dass der Mann der Vater sein könnte. Selbstverständlich müssen in Gerichtsverfahren immer die Rechte der Verfahrensbeteiligten gegeneinander abgewogen werden, und das um so sorgfältiger, je tiefgreifender Grundrechte betroffen sind. In Vaterschaftsverfahren aber die Möglichkeit der Anordnung von klärenden Tests grundsätzlich nur auf die rechtliche Familie zu begrenzen, das macht aus dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung einen Papiertiger. Im Bundesjustizministerium arbeitet man momentan an einer möglichen Reform des Abstammungsrechts, auch der Paragraph zur Abstammungsklärung steht dabei auf dem Prüfstand. Möglich, dass die Bundesverfassungsrichter dem Ergebnis dieser Prüfungen nicht vorgreifen wollten, indem sie schon jetzt beispielsweise Kriterien festlegen, unter denen ein Gentest auch außerhalb der rechtlichen Eltern-Kind-Beziehung angeordnet werden kann. Klärungsbedarf durch den Gesetzgeber haben sie mit ihrem Urteil auf jeden Fall aufgezeigt.

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