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EKD - Evangelische Kirche in Deutschland

Ökumenischer Gottesdienst im Berliner Dom anlässlich der Erinnerung an den Völkermord an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen

Hannover (ots)

In einem ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom gedachten am 23. April über 1100 Menschen des Völkermordes an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen vor hundert Jahren. Schätzungen zufolge 1,5 Millionen Menschen wurden zwischen 1915 und 1922 im Osmanischen Reich ermordet. "Als Kirchen in Deutschland stehen wir zusammen zu der Verantwortung, das Gedenken an den Völkermord wachzuhalten", erklärten Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Deutsche Bischofskonferenz (DBK), Armenische Apostolische Kirche und die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, die zu dem Gottesdienst gemeinsam einluden. Vor dem Gottesdienst begrüßte Dompredigerin Petra Zimmermann Bundespräsident Joachim Gauck, der im Anschluss an den Gottesdienst zu den Versammelten sprach.

"Wir feiern diesen Gottesdienst in ökumenischer Gemeinschaft, weil wir alle Glieder am einen Leib Jesu Christi sind und deshalb auch die Last der Trauer gemeinsam tragen. Mit dem Apostel Paulus wissen wir: Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit (1Kor 12,26)", sagte Landesbischof Heinrich Bedford Strohm, Ratsvorsitzender der EKD, in seinem Eingangswort. Im Gedenken an die Opfer sprach er auch die Verantwortung Deutschlands am Genozid an. Die Mitschuld bestehe im Wegsehen der Diplomaten, Militärs und Politiker gegenüber den Tätern des Jungtürkischen Regimes, den Verbündeten des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg und in der Zusammenarbeit mit ihnen. Weiter sagte er: "Doch dürfen wir ebenso nicht verschweigen, dass evangelische Kirchenleitungen und Missionsgesellschaften vor einhundert Jahren genau Bescheid wussten, dass sie aber dennoch wegschauten und untätig blieben. Nur wenn wir diese eigene Mitschuld deutlich und klar aussprechen und anerkennen, können wir auch andere dazu ermutigen, sich aufrichtig und objektiv mit dem Verbrechen des Genozid auseinanderzusetzen."

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, sprach in seiner Predigt von einer "Chronik der Unmenschlichkeit", der an jedem Tag neue Seiten hinzugefügt werden. "Was vor 100 Jahren, am 24. April 1915, seinen Anfang nahm, war ein solches Menschheitsverbrechen - das 'große Verbrechen', wie die Armenier sagen." Immer mehr Staaten, politische und religiöse Führer in aller Welt bezeichneten diese Ereignisse inzwischen als Völkermord, so Kardinal Marx: "Auch Papst Franziskus hat dies getan, als er bei einem Gottesdienst mit armenischen Gläubigen das Wort von Papst Johannes Paul II. in Erinnerung rief, dass das ihren Vorfahren angetane Unrecht 'allgemein als 'der erste Genozid des 20. Jahrhunderts' angesehen werde. Kardinal Marx betonte in seiner Predigt, dass nicht an die Grausamkeiten der Geschichte erinnert werde, um die Vergangenheit nicht vergehen zu lassen. "Sondern wir rufen sie ins Gedächtnis, damit eine verdrängte Vergangenheit uns nicht gefangen nimmt und uns innerlich vergiftet. Um es mit den Worten von Papst Franziskus zu sagen: 'Wenn die Erinnerung schwindet, hält das Böse die Wunde weiter offen.' Das müssen wir verhindern." Gerade deshalb sei es wichtig, so Kardinal Marx, "dass wir heute zusammengekommen sind - Christen verschiedener Konfession und Herkunft -, um den Schrecken beim Namen zu nennen und so einen Weg zu beschreiten, den Schrecken zu bannen und Wege des Neuanfangs und der Versöhnung zu gehen."

Gebete und Psalmen wurden während des Gottesdienstes in den Muttersprachen der Kirchen gesprochen. So betete Erzbischof Karekin Bekdjian (Armenischer Primas von Deutschland) Psalm 34 auf aramäisch, Metropolit Augoustinos (Vorsitzender der Orthodoxen Bischofskonferenz von Deutschland) auf Griechisch und Erzbischof Philoxenos Mattias Nayis und Erzbischof Julius Hanna Aydin (Syrisch-orthodoxe Kirche) auf Aramäisch. Beteiligt am Gottesdienst waren darüber hinaus Bischöfin Rosemarie Wenner (Evangelisch-Methodistische Kirche) und Dompredigerin Petra Zimmermann.

Für die musikalische Umrahmung des Gottesdienstes sorgten der Armenische Frauenchor Geghard, die syrisch-orthodoxe Sängerin Maria Kaplan, Cellist Christoph Lamprecht und Domkantor Tobias Brommann.

Schon vor dem Gottesdienst sprachen die Beteiligten sich für die Anerkennung der schrecklichen Verbrechen als Völkermord aus: "Gemeinsam unterstützen wir das Anliegen des Ökumenischen Rates der Kirchen, der Konferenz Europäischen Kirchen und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, es den Armenischen Kirchen zu ermöglichen, ihre Stimme zu erheben und auf die Anerkennung des Völkermordes hinzuarbeiten."

Die Predigt von Kardinal Reinhard Marx und das Wort von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Rates der EKD, finden Sie als pdf-Dateien in der Anlage und nach Ablauf der Sperrfrist zum Herunterladen auf www.dbk.de und www.ekd.de.

Hannover, 23. April 2015

Pressestelle der EKD

Claudia Maier

Diese Pressemitteilung wird zeitgleich von den Pressestellen der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland versandt. Mehrfachsendungen bitten wir zu entschuldigen.

Sperrfrist: 23. April 2015, 19.15 Uhr

Es gilt das gesprochene Wort!

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Worte des Ratsvorsitzenden am Donnerstag, 23. April, um 19.15 Uhr, im ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom anlässlich der Erinnerung an den Völkermord an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Eminenzen und Exzellenzen, meine Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern,

für den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland begrüße ich Sie zum ökumenischen Gottesdienst im Gedenken an den Genozid an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen. Die Armenische Apostolische Kirche, die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die Orthodoxe Bischofskonferenz, die Deutsche Bischofskonferenz, die Evangelische Kirche in Deutschland und die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland feiern diesen Gottesdienst in ökumenischer Gemeinschaft, weil wir alle Glieder am einen Leib Jesu Christi sind und deshalb auch die Last der Trauer gemeinsam tragen. Mit dem Apostel Paulus wissen wir: "Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit" (1Kor 12,26).

Wir sind dankbar, dass Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, unserer Einladung gefolgt sind und nach dem Gottesdienst zu uns sprechen werden. Mit Ihrem Kommen zeigen Sie, wie wichtig es ist, die Erinnerung an den Völkermord wachzuhalten. Wir schätzen Sie als eine Persönlichkeit, die für die notwendige Aufarbeitung auch der dunklen Seiten der deutschen Vergangenheit eintritt.

Diesen Dank an unser Staatsoberhaupt spreche ich im Wissen um die Mitschuld Deutschlands am Genozid im Jahr 1915 aus. Die Mitschuld besteht im Wegsehen der Diplomaten, Militärs und Politiker gegenüber den Tätern des Jungtürkischen Regimes, den Verbündeten des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg und in der Zusammenarbeit mit ihnen. Sie besteht ebenso in der moralischen Gleichgültigkeit, ja dem Zynismus der Regierung des Deutschen Reiches gegenüber den Opfern. Hier müssen wir mit Beschämung den Ausdruck einer Erosion ethischer Normen erkennen, die später in Deutschland selbst in der Shoah ihren fürchterlichen Ausdruck fand.

Das moralische Versagen, das zur Mittäterschaft Deutschlands im Genozid von 1915 führte und später Ausdruck in der Täterschaft Deutschland in der Shoah fand, beschränkte sich nicht auf die staatlichen Akteure. Bis auf wenige Ausnahmen betraf es auch die Evangelische Kirche. Wir erinnern an Johannes Lepsius, der 1915 nichts unterließ, um auf den Genozid aufmerksam zu machen und das Gewissen der Menschen wachzurütteln. Doch dürfen wir ebenso nicht verschweigen, dass evangelische Kirchenleitungen und Missionsgesellschaften vor einhundert Jahren genau Bescheid wussten, dass sie aber dennoch wegschauten und untätig blieben. Als Evangelische Kirche in Deutschland stehen wir deshalb in einer besonderen Verantwortung, wie es Synode und Rat der EKD bereits vor zehn Jahren zum 90. Jahrestag des Genozids mit folgendden Worten zum Ausdruck brachten: "Die Vergangenheit lässt uns nicht los, bis sie wirklich aufgearbeitet ist. Schuld muss angenommen werden, die Wahrheit muss verkündet werden. Dieser schwere Schritt der Rückwendung zur eigenen Geschichte ist notwendig, um den Weg zur Vergebung zu öffnen, bittere Erinnerungen zu heilen und eine gemeinsame Zukunft zu gewinnen." Nur wenn wir diese eigene Mitschuld deutlich und klar aussprechen und anerkennen, können wir auch die Türkei dazu ermutigen, sich aufrichtig und objektiv mit dem Verbrechen des Genozid auseinanderzusetzen.

Das Bekennen von eigener Schuld ist nicht zu trennen von der Verantwortung für die Gegenwart. Das Eintreten für Menschenrechte und Religionsfreiheit weltweit ist für uns - gerade aus unserer Schuldgeschichte heraus, der Mitschuld am Genozid von 1915 und der Schuld an der Shoah - unverzichtbar. Dabei denken wir heute auch an alle Menschen, Christen, Juden und Muslime, die im Nahen Osten und überall Opfer von ethnisch oder religiös motivierter Gewalt werden. Der Genozid des Jahres 1915 und das deutsche Verbrechen der Shoah mahnen uns, dass es keine Alternative zur Koexistenz von Kulturen und Religionen gibt und dass die Vorstellung von gewaltsam vereinheitlichten religiösen oder ethnischen Territorien ein schrecklicher Irrweg ist.

Der christliche Glaube verbindet das Bekennen der Schuld und die Bitte um Vergebung mit einer Hoffnung. Wir wissen, dass jedes Erinnern von der Vergangenheit ausgeht und ausgehen muss. Aber Erinnern beschränkt sich nicht auf das bloße gedankliche Wiederholen des Vergangenen. Erinnern im christlichen Sinn nimmt das Geschehene, das Getane und das Erlittene hinein in die Geschichte Gottes mit den Menschen und bittet zugleich um Gottes Geist, der Herzen und Sinne der Menschen verwandelt und erneuert.

Im ökumenischen Gespräch mit unseren Schwesterkirchen der orientalischen und der byzantinischen Tradition haben wir dies aus der Liturgie, dem gottesdienstlichen Geschehen, gelernt: In jeder Gottesdienstfeier tritt zum Erinnern, zur Anamnese, die Anrufung des verwandelnden und Zukunft schenkenden Geistes Gottes, die Epiklese. Wenn wir also heute gemeinsam im ökumenischen Gottesdienst an den Genozid vor einhundert Jahren erinnern, so geschieht dies in der Hoffnung, dass uns das gemeinsame Erinnern verwandelt: Wer das Erinnerte zusammenbringt mit der Geschichte Gottes mit den Menschen, wird durch das Erinnern selbst transformiert. Diese Erfahrung steht im Zentrum unseres Glaubens.

Wäre es nicht so, dann müsste sich das Erinnern auf ein ewiges Kreisen um das Vergangene beschränken. Solch ein Erinnern bliebe ohne jede Kraft zur Veränderung und zur Erneuerung. Weil wir aber das Gedenken an die Opfer des Genozids ebenso wie an Schuld und Versagen der Helfer und der Täter einbinden in die verwandelnde Kraft des Glaubens, dürfen wir auf ein Erinnern hoffen, das transformiert, tröstet und endlich auch versöhnt.

Diese Hoffnung verharmlost das Geschehene nicht. Der Völkermord an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen durch das Jungtürkische Regime bleibt ein Verbrechen. Die Mitschuld Deutschlands am Genozid von 1915 und auch die Beschämung werden nicht aufgehoben. Aber mit der Hoffnung auf Verwandlung und Versöhnung schafft der Glaube zugleich etwas Neues. Möge Gott uns allen diese verwandelnde und erneuernde Erfahrung in diesem Gottesdienst schenken.

Predigt von Reinhard Kardinal Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz,

im Ökumenischen Gottesdienst am 23. April 2015 in Berlin

im Gedenken an den 100. Jahrestag des Genozids an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen

Liebe Schwestern und Brüder!

Die Geschichte der Menschheit kann auch als Geschichte des Bösen, als Ansammlung von Untaten und Verbrechen, von Gewalt und Mord geschrieben werden. Der Chronik der Unmenschlichkeit werden an jedem Tag neue Seiten hinzugefügt. Und doch: Bestimmte Verbrechen ragen aus dieser alltäglichen und allgegenwärtigen Flut menschengemachter Schrecken heraus. Sie bleiben nicht nur Einzelnen im Gedächtnis, nicht nur Gruppen oder bestimmten Völkern, nein, die ganze Menschheit wird immer wieder von der Erinnerung daran geplagt. Denn es sind Verbrechen, die den Raum der bloß individuellen oder nationalen Leiderfahrung sprengen. Sie konfrontieren die ganze Menschheit und jeden Einzelnen mit den moralischen Abgründen, die wir alle als Möglichkeit in uns tragen. Was vor 100 Jahren, am 24. April 1915, seinen Anfang nahm, war ein solches Menschheitsverbrechen - das "große Verbrechen", wie die Armenier sagen. Es beginnt mit der vom Innenminister der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches befohlenen Verhaftung von 235 armenischen Persönlichkeiten. Ein fast unscheinbares Ereignis. Aber dann wird die armenische Bevölkerung - und mit ihr die katholischen und orthodoxen Syrer, die Assyrer, Chaldäer und Griechen - aus ihren Siedlungsgebieten deportiert. Die Menschen verhungern und verdursten auf dem Fußweg in die Wüstenlager, in die sie verbracht werden sollen. Viele werden auf diesem Marsch erschossen, erschlagen, in Flüssen ertränkt. Reguläre Truppen sind hier am Werk, Paramilitärs, auch aufgehetzte türkische Zivilisten. Selbst wer die Lager erreicht, hat nur geringe Überlebenschancen. Es fehlt an allem. Dies sind keine Orte, die zum Leben ausgelegt wären. Und so steht am Ende eine erschütternde Bilanz: Hundertausende sind dem schrecklichen Verbrechen zum Opfer gefallen, eine Million, manche sprechen von 1,5 Millionen Toten. Immer mehr Staaten, politische und religiöse Führer in aller Welt bezeichnen diese Ereignisse inzwischen als Völkermord. Auch Papst Franziskus hat dies getan, als er bei einem Gottesdienst mit armenischen Gläubigen das Wort von Papst Johannes Paul II. in Erinnerung rief, dass das ihren Vorfahren angetane Unrecht "allgemein als 'der erste Genozid des 20. Jahrhunderts'" angesehen werde. Mit dieser Bemerkung hat sich der Papst den Zorn der türkischen Regierung zugezogen. Ich bin kein Historiker und kein Jurist. Aber ich verstehe gut, warum die Nachfahren der Opfer auf dieser Charakterisierung beharren. Sie wollen die jahrzehntelange Geschichte des Leugnens, Verdrängens und Bagatellisierens definitiv beendet wissen, die sie als fortdauernde Demütigung der Opfer verstehen. Und tatsächlich machen die historischen Umstände - die bedrängte Situation des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und die gegen das Reich gerichteten nationalen Ambitionen der Armenier - zwar manches verständlich. Doch sie vermögen in keiner Weise zu rechtfertigen, was geschehen ist. Man darf die Verbrechen, die an den Armeniern und den anderen christlichen Gruppen begangen wurden, nicht in das allgemeine Kriegsgeschehen (so furchtbar dieses auch war) einordnen und sie allenfalls als kriegsbedingte Exzesse bedauern. Denn dies hieße, die moralischen Maßstäbe preiszugeben, die wir alle - gerade mit Blick auf die Konflikte und gewalttätigen Auseinandersetzungen - auch heute und für die Zukunft so dringend benötigen.

Wir erinnern nicht an die Grausamkeiten der Geschichte, um die Vergangenheit nicht vergehen zu lassen. Sondern wir rufen sie ins Gedächtnis, damit eine verdrängte Vergangenheit uns nicht gefangen nimmt und uns innerlich vergiftet. Um es mit den Worten von Papst Franziskus zu sagen: "Wenn die Erinnerung schwindet, hält das Böse die Wunde weiter offen". Das müssen wir verhindern. Und deshalb ist es wichtig, dass wir heute zusammengekommen sind - Christen verschiedener Konfession und Herkunft -, um den Schrecken beim Namen zu nennen und so einen Weg zu beschreiten, den Schrecken zu bannen und Wege des Neuanfangs und der Versöhnung zu gehen.

Aber kann es nach einem massenhaften Morden, wie es die Armenier erlebt haben, überhaupt je wieder zu einem friedlichen Zusammenleben kommen? Eine "abstrakte" Antwort jenseits der konkreten Geschichte kann es hier sicher nicht geben. Aber als Deutsche dürfen wir von der Erfahrung sprechen, nach dem Zweiten Weltkrieg eine unverdiente Chance der Aussöhnung erhalten zu haben. Nach den Vernichtungskriegen im Osten Europas und dem in seiner Art einmaligen Verbrechen des Holocaust sind uns neue Anfänge ermöglicht worden. Wir haben Vergebung erfahren. Aber der Preis ist der Mut zur Ehrlichkeit gegenüber der eigenen Geschichte und die wirkliche Bereitschaft, auf die Opfer und ihre Nachkommen zu hören. Ohne dies aber wäre es nicht möglich geworden. Und ohne dies gibt es auch heute keine Wege in eine gemeinsame Zukunft der durch geschichtliche Schuld getrennten Völker. Als Christen haben wir dazu eine besondere Verantwortung im Blick auf den Gott, der im Kreuz seines Sohnes alle Schuld, alle Verbrechen auf sich gezogen hat.

Vom Geist, von Haltungen, von Mentalitäten, die es braucht, um aus den scheinbar unentrinnbaren Zerwürfnissen und der hoffnungslosen Verstrickung in die Gewalt loszukommen, sprechen auch die Seligpreisungen in der Bergpredigt Jesu, die wir eben gehört haben. Wer ist selig, wer ist Gott nahe? Das ist die Frage, die Jesus seinen Zuhörern vorlegt. Und die Antwort bricht mit aller konventionellen Weisheit, mit der wir uns in dieser Welt einzurichten pflegen. Nicht Wohlstand, Wissen, Macht und Reputation, nicht die Anpassungsfähigkeit an den Lauf der Dinge zeichnen den Menschen vor Gott aus. Selig gepriesen werden diejenigen, die sich ihrer Armut vor Gott bewusst sind, die das Leid annehmen, die Gerechtigkeit suchen und Barmherzigkeit üben. Selig gepriesen werden die Friedfertigen und Frieden Schaffenden, diejenigen, die sogar das Los der Verfolgung annehmen. Mit einem Wort: Selig gepriesen werden diejenigen, die der alltäglichen Logik der Durchsetzung eigener Interessen und der Gewalt widerstehen und sich auf die Lebensform Christi einlassen und auf sein Sterben, in dem Gott zugelassen hat, dass alle Mächte der Gewalt und Sünde am Kreuz seines Sohnes zum Erliegen kommen. Dafür sollen wir Zeugen sein. Aber dafür braucht es den Blick in die Wahrheit.

Was heißt das angesichts einer großen historischen Katastrophe wie dem Genozid der Jahre 1915-1918? - Für die Nachkommen der Täter heißt es, der historischen Schuld der eigenen Nation ins Auge zu blicken, dem Versagen der Vorfahren nicht auszuweichen, nicht zu lavieren, nicht zu bagatellisieren - und so auf einen Neubeginn zu hoffen, der dem eigenen Land schließlich auch zur Ehre gereicht. - Für die Nachkommen der Opfer besagen die Seligpreisungen: Nicht Vergeltung ist der Weg, nicht Hass, der am Ende doch nur zerstörerisch und selbstzerstörerisch ist. Nur die Vergebung, die Bereitschaft zur Aussöhnung befreit ein Volk der Opfer davon, für alle Zeiten hoffnungslos an die dunkelsten Stunden der eigenen Geschichte gebunden zu bleiben. Und was ist mit uns Deutschen? Gewiss, wir waren damals keine Täter. Aber das Deutsche Reich war Verbündeter der Osmanen und seine Regierung über die Verbrechen gut informiert. Bewusst und nur an den eigenen politischen Interessen orientiert, ignorierte man das unfassbare Grauen. Kein ernsthafter Versuch wurde unternommen, Einfluss auf die Politik in Konstantinopel zu nehmen. Im Reichstag stellte der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg klar: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber die Armenier zu Grunde gehen oder nicht". Müssen uns diese Worte und die deutsche Politik in der Nachtstunde des armenischen Volkes nicht mit tiefer Scham erfüllen? Man hört in unserem Land wenig davon. Ist die Gleichgültigkeit, zu der sich Bethmann Hollweg laut bekannte, in unseren Tagen zu einer lautlosen Gleichgültigkeit geworden? Die Empfindsamkeit für das Leiden der anderen ist jedenfalls eine der Grundbotschaften Jesu, die auch in den Seligpreisungen widerhallt. Die Ermordung von Armeniern, Aramäern und Pontos-Griechen war keine religiös motivierte Tat. Aber wir dürfen daran erinnern, dass die Opfer Christen waren. Und dies war insofern nicht zufällig, als die Verbrechen in die Zeit des europäischen Nationalismus fallen. Die Homogenität von Volk und Staat war zur beherrschenden Ideologie geworden. Das Zusammenleben verschiedener Völker und Identitäten in einem Staat erschien immer weniger vorstellbar, geschweige denn wünschbar. Auch im Mittleren Osten unserer Tage werden vor allem die Minderheiten verfolgt. Und es sind nicht selten die Christen, die zur Zielscheibe von Gewalt, Terror und Vertreibung werden. Eines der Wüstenlager, in das die Armenier verbracht wurden, lag bei Mossul - jener Stadt, aus der die Christen im letzten Sommer durch den sogenannten "Islamischen Staat" verjagt worden sind. Der Vordere Orient sucht nach einer neuen Ordnung. Die Christen und andere Minderheiten werden wie damals im Sinne einer ethnischen und ideologischen Säuberung vertrieben - im Irak, in Syrien und anderswo. Lassen wir in dieser Stunde des Gedenkens die Frage an uns heran: Sind wir in Deutschland und in Europa davor gefeit, uns einmal mehr der Gleichgültigkeit und Empfindungslosigkeit gegenüber den Leidenden schuldig zu machen? Die Seligpreisungen Jesu können uns den Weg weisen. Sie lenken den Blick auf die Opfer. Sie rufen uns zur Solidarität mit den unter die Räder Geratenen. Sie machen uns unruhig und stark zugleich, durch Erfahrungen der Gewalt und der Vertreibung hindurch Wege des neuen Anfangs mit zu ermöglichen: "Selig, die keine Gewalt anwenden...". Amen.

Pressekontakt:

Carsten Splitt
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