Bund der Freien Waldorfschulen
Waldorfschule: Aufarbeitung von Gewalt durch einen Lehrer vor 30 Jahren
Waldorfschule Überlingen
„Wir stellen uns der Vergangenheit!“
Vorstellung einer Studie zur Aufarbeitung von Gewalt in den 1990er-Jahren
Überlingen/Berlin, 10. Oktober 2025 (NA): Am 10.10.2025 hat das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) München in Überlingen die aktuelle Studie „Sexualisierte, körperliche und psychische Gewalt an der Waldorfschule Überlingen“ präsentiert. Das IPP München war von der Freien Waldorfschule Überlingen zur externen institutionellen Aufarbeitung zu Vorfällen mit einem Lehrer in den Jahren 1990–1993 beauftragt worden. Das Ziel: Das Geschehen transparent zu rekonstruieren und den betroffenen ehemaligen Schüler:innen Respekt zu zollen. Der Bund der Freien Waldorfschulen bezieht Stellung.
Die Studie deckt gewaltsames Handeln und verfehlte pädagogische Praxis des Lehrers sowie Versäumnisse der Schulverantwortlichen auf. Die Schule zeigt sich nach der Klärung der Geschehnisse von damals tief betroffen, dass der Lehrer nicht schneller gestoppt wurde. „Wir müssen festhalten: Die damalige Schulleitung trifft schwere Versäumnisse und Fehler“, kommentiert Vorstand Wilko Braa, anlässlich der Pressekonferenz, und betont: „Für das, was sie in den Neunzigerjahren den Betroffenen mit diesem Fehlverhalten auferlegt hat, möchten wir uns heute als Nachfolger der damaligen Schulleitung bei ihnen entschuldigen. Es erfüllt uns mit Fassungslosigkeit, was sie erleben mussten.“
Die Schulleitung hatte sich 2022 zu diesem Schritt entschlossen, als im Zuge einer Jubiläumsfeier Hinweise auf Missbrauchsfälle durch den Lehrer aufkamen und deutlich wurde, dass es kaum Informationen über die Geschehnisse 30 Jahre zuvor gab. Das IPP München konnte als externer Experte gewonnen werden. Die Betroffenen wurden an der Aufarbeitung umfassend beteiligt, wofür sie der Schule dankbar sind, aber auch die Erwartung ausdrücken, dass die jetzigen und zukünftigen Schüler:innen von dem gewonnenen selbstkritischen Blick und den heute verbesserten Schutzmechanismen der Schule profitieren.
Ein wichtiger Schritt
„Wir haben den mutigen Schritt der Schule und der Betroffenen, die externe Aufarbeitung anzustoßen, begrüßt und ideell unterstützt. Ebenso schätzen wir die Studie des IPP München. Sie hält Waldorfschulen einen Spiegel der 1990er-Jahre vor, in den wir blicken müssen“, bekräftigt Nele Auschra, Vorstand und Sprecherin des Bundes der Freien Waldorfschulen (BdFWS). Das Autor:innenteam des IPP analysiert die in den 1980er- und 1990er-Jahren praktizierte Waldorfpädagogik unter dem Aspekt der „ideologischen Risikobedingungen“. Tatsächlich weist die beschriebene pädagogische Praxis der besagten Lehrkraft zahlreiche Züge auf, die die Absichten der Waldorfpädagogik konterkarieren. „Es ist schmerzvoll, diese historische Realität zu erkennen. Die lange Zeit der Nichtbeachtung, die offensichtliche Verharmlosung und die Täter-Opfer-Umkehr sind für uns schwer zu ertragen“, so Auschra für den Vorstand des BdFWS. „Unser Mitgefühl gilt den betroffenen Schülerinnen und Schülern.“
Anforderungen an die aktuelle Forschung
Im letzten Vierteljahrhundert sind in der wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik entscheidende Fortschritte vollzogen worden. Was an manchen Schulen noch Ende des vergangenen Jahrhunderts teils unhinterfragt tradiert wurde, wird seither selbstverständlich einer kritischen Überprüfung und Aktualisierung unterzogen. So werden zum Beispiel die Inhalte in der Hochschulausbildung in den akkreditierten BA- und MA-Studiengängen Waldorfpädagogik sowie den Seminaren zu Aus- und Weiterbildungen laufend mit dem gegenwärtigem erziehungswissenschaftlichen Forschungsstand abgeglichen.
Die Stellung der Klassenlehrkraft, die anthropologischen und persönlichkeitspsychologischen Ansätze der Entwicklungsbetrachtungen und moderne, gesunde Formen der Selbstverwaltung – alles Themen, die durch die Studie im zeitlichen Kontext sehr kritisch reflektiert werden – werden intensiv weiterentwickelt. „Der Vorstand prüft darüber hinaus die verschiedenen Perspektiven und Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Aufarbeitung seitens des BdFWS“, ergänzt Auschra. Im Fokus stünden dabei Waldorfpädagogik und Waldorfschulen, wobei der allgemeine Forschungsstand zu Missbrauch des Machtgefälles generell im schulischen Kontext berücksichtigt werden wird. Aber es sei ebenfalls festzuhalten: „Quantitative Studien zu dem Ausmaß von Missbrauchsfällen an Waldorfschulen im Vergleich mit anderen Schulformen liegen derzeit nicht vor.“
Aufarbeitung als konsequente Ergänzung zur Gewaltschutzprävention
Die Präsentation der IPP-Abschlussstudie fällt zusammen mit dem nächsten Schritt der Qualitätsentwicklung der Waldorfschulen in Deutschland: Im aktuellen Schuljahr sollen für die institutionelle Aufarbeitung verbindliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Bereits 2022 haben sich alle deutschen Waldorfschulen verpflichtet, ein Schutzkonzept zu haben. Der BdFWS hat dazu eine Anlaufstelle eingerichtet, Handreichungen entwickelt und das Thema fest in seinen Aus- und Weiterbildungsstätten verankert. „Damit sind die Voraussetzungen für einen sensibilisierten, professionellen Umgang in der Gegenwart geschaffen“, so Eva Wörner, Vorstandsmitglied und zuständig für Gewaltprävention im BdFWS, und ergänzt: „Die in der Vergangenheit liegenden Fälle von Gewalt lassen sich jedoch nur durch eine institutionelle Aufarbeitung angemessen bearbeiten.“ Nur dann kann den Betroffenen der ihnen gebührende Respekt gezollt werden und können substanzielle strukturelle Voraussetzungen beseitigt werden.
Weitere Informationen:
schule.waldorf-ueberlingen.de, ipp-muenchen.de, waldorfschule.de/beratung-kontakt/gewaltpraevention, waldorfschule.de/paedagogik/forschung-aktuell, erziehungskunst.de/artikel/nicht-bagatellisieren-und-nicht-vertuschen
Bund der Freien Waldorfschulen e.V.
Die derzeit 257 Waldorfschulen in Deutschland sind im Bund der Freien Waldorfschulen e. V. mit Sitz in Stuttgart organisiert. Die erste Waldorfschule wurde 1919 in Stuttgart gegründet. Aktuell besuchen mehr als 90.500 Schüler:innen eine Waldorfschule in Deutschland. Mehr unter waldorfschule.de.
Kontakt: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Bund der Freien Waldorfschulen e.V., pr@waldorfschule.de.
Nele Auschra Vorstand Bund der Freien Waldorfschulen e.V. Öffentlichkeitsarbeit | Kommunikation Potsdamer Straße 86 10785 Berlin Tel.: +49 (0)30.5771 1334-0 E-Mail: auschra@waldorfschule.de waldorfschule.de