Alle Storys
Folgen
Keine Story von Westfalen-Blatt mehr verpassen.

Westfalen-Blatt

Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Psychopharmaka-Boom

Bielefeld (ots)

Die USA werden auch »Prozac Nation« genannt - nach der gleichnamigen »Glückspille«. Millionen Amerikaner schlucken Antidepressiva, Beruhigungsmittel und Konzentrationsverstärker. Und das tun nicht nur Kranke, sondern auch immer mehr Gesunde. Mit leistungsfördernden Psychopharmaka wollen sie sich gegen wachsenden Stress am Arbeitsplatz wappnen. Militärpiloten etwa schlucken sie vor dem Einsatz, damit sie länger durchhalten.

Von amerikanischen Verhältnissen ist Deutschland nicht mehr weit entfernt. Vor allem Frauen würden Psychopharmaka in einer besorgniserregenden Menge verschrieben, und das teils ohne therapeutische Notwendigkeit, heißt es im Arzneimittelreport 2012 der Barmer GEK.

Das Problem ist nicht neu, wird aber immer gravierender. Deutsche Apotheken kauften 1996 insgesamt 88 Kilogramm des Wirkstoffs Methylphenidat, der in dem populären Medikament Ritalin enthalten ist. 2006 waren es bereits 1221 Kilogramm. Einst diente Ritalin nur dazu, unaufmerksame und hyperaktive Kinder, die sogenannten »Zappelphilippe«, zu behandeln - heute nutzen Tausende Studenten das Mittel zum Gehirn-Doping. Der Wirkstoff Methylphenidat verhilft zu längeren Konzentrationsphasen; die angehenden Akademiker können ganze Nächte an ihrer Examensarbeit durchschreiben.

In einer Gesellschaft, in der jeder zu »funktionieren« hat, werden Psychopharmaka zunehmend als Allheilmittel gegen die seelischen Belastungen im Alltag angesehen, die gefälligst schnell zu verschwinden haben. Die Werbung der Pharmafirmen verstärkt dieses Denken, indem sie verspricht, ihre Medikamente würden wie ein Turbo wirken: Tablette einnehmen, Kopfschmerzen weg!

Der verständliche Wunsch nach einem glücklichen, unkomplizierten Leben verleitet zum Schlucken der Psychopillen. Mögliche Nebenwirkungen bis hin zur Abhängigkeit werden ausgeblendet. Bei psychischen Krankheiten wie Zwangsstörungen sind Medikamente oft aber allein keine Lösung: Sie dämpfen nur die Symptome, ersetzen aber keine Psychotherapie, die die Ursachen aufarbeitet.

Die Ärzte wissen das: Sie verschreiben aber auch deshalb so viele Beruhigungs- und Schlafmittel, weil Psychotherapeuten inzwischen Wartezeiten von bis zu einem Jahr haben und die Patienten natürlich schnell Linderung suchen. Und weil Frauen mit seelischen Problemen eher zum Arzt gehen als Männer (»Indianer kennen keinen Schmerz«), werden ihnen zwei- bis dreimal mehr Psychopharmaka verschrieben.

Damit Deutschland nicht auch zur »Prozac Nation« wird, sollten Ärzte die vermeintlichen Glückspillen nur mit Bedacht verordnen und Wissenschaftler und Medien stärker vor den mit ihnen verbundenen Illusionen warnen. Leid und Sorgen gehören zum Leben dazu - die Belastungen im Alltag, in Beruf und Beziehung lassen sich nicht einfach wegschlucken.

Pressekontakt:

Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261

Original-Content von: Westfalen-Blatt, übermittelt durch news aktuell

Weitere Storys: Westfalen-Blatt
Weitere Storys: Westfalen-Blatt
  • 25.06.2012 – 20:30

    Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Drogentoten

    Bielefeld (ots) - Alkohol ist gesellschaftsfähig. Bei einer Statistik zu Drogentoten denken die wenigsten direkt an Alkoholsucht. Eine Gesellschaft verdrängt eines ihrer größten Probleme. Es wäre ihr zu wünschen, dass sie sich in dieselbe Richtung bewegt wie beim Rauchen. Galt das Qualmen vor ein paar Jahren noch als chic, finden es heute nicht einmal mehr die ...

  • 25.06.2012 – 20:20

    Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Fracking.

    Bielefeld (ots) - »Fracking und Trinkwasserschutz sind grundsätzlich vereinbar!« Diese Aussage dürfte bei Energiekonzernen wie etwa Exxon-Mobile im sprichwörtlichen Sinne wie Öl runtergehen. Zumal der Satz von einer recht hohen Instanz stammt - nämlich der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe mit Sitz in Hannover. Ist das etwa der Durchbruch für ...

  • 25.06.2012 – 20:15

    Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Lage in Syrien und im Nahen Osten

    Bielefeld (ots) - Niemand will Krieg. Auch nicht im Nahen Osten. Doch die ungezügelte Gewalt des syrischen Diktators Assad ruft die Nato zunehmend auf den Plan. Denn eines ist gewiss: So lange sich USA, Nato und die Nachbarn Syriens aus dem Bürgerkrieg heraushalten, wird Assad nicht einlenken. Er versteht nur die Sprache der Gewalt. Diplomatische Initiativen der ...