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Landeszeitung Lüneburg: Herkulesaufgabe für die Libyer -- Menschenrechtsexperte Ulrich Delius ist skeptisch, ob Regimewechsel die Lage der Minderheiten verbessert

Lüneburg (ots)

Der Wind der Veränderung fegt durch die arabische Welt. Die Menschen revolutieren gegen die verkrusteten Regime. Despoten fallen. Noch hofft Libyens Diktator Gaddafi, das Blatt mit seinen Prätorianern wenden zu können. Ein Sturz Gaddafis würde die Lage der Minderheiten wie der Tuareg nicht per se verbessern, meint Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker.

Die arabischen Völker schütteln ihre Herrscher ab. Holt die Region die Demokratisierungswelle nach, die Osteuropa in den neunziger Jahren erfasst hatte, oder entsteht etwas Neues?

Ulrich Delius: Wir wissen noch nicht, wohin die Reise geht. In der Region rufen gerade junge Leute massiv nach Veränderungen, Perspektiven und einer Beseitigung der korrupten Regime. Die Hoffnung bei Menschenrechtlern ist natürlich groß, dass es zu einem echten demokratischen Neuanfang kommt, den diese Staaten bitter nötig haben. Am Beispiel Libyen: Welche Hindernisse stehen der Gesellschaft für einen solchen demokratischen Neuanfang im Weg, wenn der Diktator erst aus dem Weg geräumt ist?

Delius: Libyen ist eine gewaltige Herausforderung. Gaddafi war 42 Jahre an der Macht. 42 Jahre lang hat er alles zerschlagen, was es an demokratischer Opposition -- überhaupt an Zivilgesellschaft -- gab. Jetzt muss das in kürzester Zeit nachgeholt werden. Diejenigen, die Gaddafi und seine Familie verdrängen wollen, müssen das Land in jeder Beziehung von Grund auf neu strukturieren. Das ist eine Herkulesaufgabe.

Welchen Nachholbedarf haben die arabischen Staaten auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes?

Delius: Der stand ganz am Ende der Prioritätenliste der Herrscher. Noch im Januar hatten sich die Wirtschaftsminister der arabischen Staaten auf einer Konferenz in Ägypten gegen jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihrer Staaten verwahrt, nachdem der Papst die Verfolgung christlicher Kopten in Ägypten gerügt hatte. Eine fatale Haltung, weil wir in nahezu allen arabischen Staaten beobachten, dass religiöse wie ethnische Minderheiten massiv unterdrückt werden.

Können Frauen und ethnische Minderheiten in demokratisierten Staaten automatisch auf Gleichberechtigung hoffen?

Delius: Es kann sein und wäre zu wünschen, dass ein Regimewandel zu einem besseren Schutz von Minderheiten und Frauen führt -- ausgemacht ist das aber wahrlich nicht. Denn es geht um Macht, es geht um die Kontrolle wichtiger Rohstoffe und um Profite für einzelne Gruppen. Nehmen wir das Beispiel Libyen. Dort begehren jetzt die Tuareg auf, die im äußersten Süden des Landes leben. Dort wird seit 1997 Öl gefördert, wovon die Tuareg nicht profitieren. Im Gegenteil: Sie leiden unter den ökologischen Folgen der Förderung, verelendeten wirtschaftlich. Jetzt reklamieren die Tuareg mehr Anteile aus den Exporterlösen für sich. Das wird auf Widerstand bei den Ethnien im Norden stoßen.

Haben Libyens Tuareg angesichts der Zersplitterung der Gesellschaft in 140 Stämme eine Chance?

Delius: Sie hätten eigentlich ein gewichtiges Wort mitzureden, weil rund ein Drittel des libyschen Erdöls und Erdgases in Tuareg-Regionen gefördert wird. Doch die Durchsetzung eigener Ansprüche wird sehr schwer sein, weil sie ein Umdenken in der arabischen Welt erfordert, um die Anliegen nichtarabischer Völker als berechtigt anzuerkennen. Die Tuareg sehen sich zusammen mit den anderen Berber-Gruppen als die eigentlichen Ureinwohner Nordafrikas, waren schon lange da, bevor die Araber im siebten Jahrhundert die Region besiedelten. Gaddafi leugnete systematisch die Existenztenz dieser Ureinwohner, behandelt wurden sie als Bürger zweiter Klasse.

War der Öl-Reichtum für Libyen und die Golf-Emirate ein Fluch, weil er traditionell-konservative Kräfte stärkte?

Delius: Es ist in jedem Fall ein Fluch, weil nur wenig Geld in den Ölförderregionen selbst blieb. Weil etwa in den Emiraten viel Geld am Volk vorbeifloss, wurden die Verteilungskämpfe härter -- etwas, das auch Libyen droht. Die traditionelle Stammesstruktur Libyens hingegen hätte sich auch ohne Öl ausgeprägt.

Diktator Gaddafi spielte die Stämme Libyens gegeneinander aus, um seine Macht zu festigen und Rivalitäten zu bändigen. Droht ohne die eiserne Klammer der Diktatur ein Bürgerkrieg wie in Afghanistan oder im Irak?

Delius: Gaddafi hat mit der Herrschaftstechnik des "Teilen und Herrschens" mit dem Feuer gespielt -- und dies in den letzten Jahren nicht mehr allzu geschickt. Das Austarieren über Postengeschacher funktionierte nicht mehr, weil er Ämter am Ende fast nur noch an Mitglieder seines Clans vergeben hat. Das war mit einer der Gründe, warum ihm die Unterstützung einer Reihe der rund 30 einflussreichen Clans in Libyen abhanden gekommen ist.

Die angebliche "Einzigartigkeit der arabischen Kultur" wurde oft von Despoten bemüht, um Ansprüche von Minderheiten auszusitzen. Wird sie künftigen Mehrheiten als Argument dienen, um die Minderheit zu arabisieren?

Delius: Diese Staaten haben bis zu 60 Jahre Arabisierungspolitik hinter sich. Nach einer so langen Ära wird dies nicht mehr in Frage gestellt. Ein Beispiel: Ich sprach jüngst mit einem Berber aus Algerien. Der sagte: "Ich freue mich darüber, dass sich die Opposition in Algerien vehement bemüht, uns Berber in die Protestbewegung einzubinden. Aber: Die Araber, die um uns werben, sprechen mit uns Arabisch -- aber wir dürfen nicht in unserer Sprache -- auf Kabylisch -- antworten." Sogar innerhalb der Protestbewegung zeigen sich also die Grenzen der Erneuerung. Es ist noch ein langer Weg zurückzulegen, bis arabische Gesellschaften anerkennen, dass es in ihrer Mitte Minderheiten gibt, die Rechte haben sollten. Sei es in religiöser Hinsicht, dass sich etwa Ägypten säkularisiert -- und der Islam nicht länger Staatsreligion ist --, was von Kopten, Juden und Bahai als bedrückend empfunden wird. Sei es in ethnischer Hinsicht, dass Staaten wie Marokko, Libyen und Algerien einräumen, nicht nur arabische Nationen zu sein, sondern zum Beispiel auch Berber-Nationen. In Marokko stellen die Berber sogar die Mehrheit der Bevölkerung, trotzdem werden sie massiv unterdrückt. Ob die Bevölkerungen und die Erneuerer in der arabischen Welt fähig sein werden, diese Herausforderung zu meistern, da bin ich skeptisch. Es bedarf aber auf jeden Fall eines langen Prozesses.

Gibt es Ansätze, die Vielfalt Arabiens zur Stärke und nicht zum Problem werden zu lassen?

Delius: Es gibt sehr schöne Ansätze zum Beispiel in Ägypten: Einen engen Schulterschluss von Muslimen und Angehörigen anderer Religionen, um die Minderheiten vor Übergriffen von Radikalen zu schützen. Nehmen wir Tunesien, wo vor wenigen Tagen ein koptischer Priester ermordet wurde. Als Reaktion demonstrierten Tausende Muslime. Das sind hoffnungsvolle Zeichen, die überwiegend von jungen Leuten gesetzt werden.

Neben hoffnungsvollen Zeichen gibt es aber auch bedrohliche. So kam es in Kairo erst Weihnachten zu einem mörderischen Anschlag auf die koptische Gemeinde. Auch in Libyen gibt es islamistische Fundamentalisten, die bisher im Irak und in Afghanistan kämpften. Könnte deren Rückkehr den Neuanfang des Staates belasten?

Delius: Die Voraussetzungen sind in den Ländern schon sehr unterschiedlich. In Ägypten kam es auch nach Mubaraks Sturz zu Terrorakten gegen Kopten. Letzte Woche wurde ein Priester ermordet, davor ein Jugendlicher. Zu Übergriffen kommt es vor allem in abgelegenen Regionen, wo die Minderheiten immer noch als Freiwild gelten. Der Einfluss radikaler Islamisten ist in Ägypten hingegen gering. Die Anti-Mubarak-Bewegung war eine demokratische. Dort könnte es in den kommenden Monaten gelingen, auch die Muslimbrüder in ein halbwegs demokratisches Regierungssystem einzubinden, weil diese ohnehin nicht so radikal sind wie Islamisten in anderen Ländern. Libyen ist eine ganz andere Herausforderung, weil es eigentlich keine organisierte Opposition gibt. Die Demonstranten eint einzig die Gegnerschaft zu Gaddafi. Ob das als Band auch bei einem Neuanfang reicht, ist die große Frage. Die Demokraten sind sich der Gefahr bewusst, dass das Land auseinanderdriften könnte. Übrig blieben dann drei Regionen. Eine solche "Somalisierung" Libyens ist nicht auszuschließen. Das Interview führte Joachim Zießler

Mit freundlichen Grüßen

Dietlinde Terjung

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