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Landeszeitung Lüneburg: "Die Kontrollinstanzen haben versagt" - Anwalt Schwenn will Hannoveraner Justiz für Fehlurteil im Missbrauchsprozess zur Verantwortung ziehen

Lüneburg (ots)

Das Urteil aus Hannover ist einer der größten Justizirrtümer der vergangenen Jahre in Niedersachsen. Die Große Jugendkammer am Landgericht Lüneburg hat das Urteil jetzt kassiert, sie sprach Ralf Witte (46) und Karl-Heinz Wulfhorst (61) in dem Wiederaufnahmeverfahren vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs der damals 15 Jahre alten Jennifer frei. Doch für Wittes Verteidiger, den prominenten Hamburger Rechtsanwalt Johann Schwenn, ist die Sache noch nicht beendet. Denn kurz nach der Hauptverhandlung im Jahre 2004 hatte das vorgebliche Opfer bei der Staatsanwaltschaft Hannover abermals ausgesagt, gab Angaben über einen vermeintlichen Vergewaltigungsring preis, die jedoch nie durch Ermittlungen bestätigt werden konnten. Die Staatsanwaltschaft aber verschwieg die Aussage, die an der Glaubwürdigkeit des Opfers weitere Zweifel hätte schüren können. Auch hätte sie den Bundesgerichtshof -- wegen ihrer Bedeutung für eine sogenannte Verfahrensrüge -- an der Verwerfung der Revision hindern können, so Schwenn. Der Staatsanwaltschaft Hannover wirft der Verteidiger Schwenn in einer Strafanzeige Rechtsbeugung vor und spricht im LZ-Interview von "unglaublicher Unprofessionalität" und von der "dunklen Seite des Opferschutzes".

Herr Schwenn, der Vorsitzende Richter Knaack am Lüneburger Landgericht sagte bei der Urteilsverkündung, dass erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren Exoten sind...

Johann Schwenn: Das kann ich aus meiner Perspektive nicht sagen, vor allem nicht für den Bereich des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofes, der für Niedersachsen zuständig ist. In meiner Praxis sind solche Wiederaufnahmen keine Exoten. Die Fälle Witte und Wulfhorst sind Fall vier und fünf allein in meiner Praxis in Niedersachsen in den letzten fünf Jahren. Wenn Sie noch die Revisionen dazunehmen, die Erfolg haben, weil den Gerichten Rechtsfehler unterlaufen sind, dann kann ich die Zahl der Fälle nicht mehr greifen, in denen Gerichte Fehler wie hier gemacht haben.

Welche Kriterien zählen für Sie, wenn Sie sich als Verteidiger entscheiden, die Wiederaufnahme eines Falls anzustreben?

Schwenn: Ausschlaggebend ist, wenn ich auf verdächtige Feststellungen stoße. In dem aktuellen Fall war es eine Kombination verschiedener Faktoren. Da war das selbstverletzende Verhalten des vermeintlichen Opfers. Und die Annahme einer posttraumatischen Belas"tungsstörung des Mädchens. Damit wurden die Verhaltensauffälligkeiten erklärt und die Ungereimtheiten in den Angaben des vermeintlichen Opfers gesundgebetet, das ja übrigens noch Jungfrau war -- nach zehn angenommenen brutalen Vergewaltigungen, unter anderem durch Penetration mit einer Flasche.

Nach dem heutigen Kenntnisstand des Lüneburger Landgerichts hätte es in Hannover im Fall Witte/Wulfhorst nicht einmal zu einer Anklage kommen dürfen. Warum kam es aus Ihrer Sicht sogar zu einer Verurteilung?

Schwenn: Man muss zunächst festhalten: Nicht nur nach dem heutigen Kenntnisstand, sondern auch nach dem, den man hatte, bevor die neue Aussage der Nebenklägerin vom 15. September 2004 bekannt wurde, hätte es nicht zu einem Schuldspruch kommen dürfen. Dass es so weit gekommen ist, hängt mit einem Phänomen zusammen: der zu frühen Festlegung auf die Opferrolle. Die wiederum beruht auf der unglaublichen Unprofessionalität der mit der Sache befassten Richter des Landgerichts Hannover und der dortigen Staatsanwälte. Man glaubt einer Zeugin, weil sie weint. Der psychiatrische Sachverständige Prof. Kröber, den ich für den Wiederaufnahmeantrag um sein Gutachten gebeten hatte, hat deshalb von "volkspsychologischen Auffassungen" gesprochen. Ihm ist auch aufgefallen, dass die Hannoveraner Urteilsbegründung hoch emotionalisiert abgefasst ist. Das zeigt, dass die Hannoveraner Kammer, unter dem Vorsitz eines heute pensionierten Richters, es mit einem befangenen Gericht zu tun hatte. Es ist sehr bedauerlich, dass den Bundesgerichtshof nicht schon diese Form der Urteilsgründe bewogen hat, das Urteil aufzuheben. Damit wäre viel Unglück vermieden worden. Urteilsaufhebungen sind bei Strafurteilen aus Hannover nicht ungewöhnlich: In der Aufhebungsstatistik des Bundesgerichtshofs belegt dieses Landgericht einen der vorderen Plätze. Wäre der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs nicht so gnädig mit dem Landgericht Hannover, wie er es in der Sache Witte/Wulfhorst gewesen ist, wäre die Bilanz noch düsterer. In den Rechtsfehlern spiegelt sich das Unvermögen, zu einem guten Urteil zu gelangen. Dass das Präsidium des Landgerichts Hannover noch keine Abhilfe geschaffen und geeignete Richter an die Stelle gesetzt hat, ist mir schleierhaft. Es gibt genug junge und richtig gute Juristen. Keinem dieser Berufsanfänger würden Fehl"leis"tungen unterlaufen, wie sie in Hannover anscheinend in sogenannten Missbrauchsverfahren offenbar an der Tagesordnung sind.

Wollen Sie damit sagen, dass das vom Landgericht Lüneburg festgestellte Fehlurteil in Hannover nur die Spitze eines Eisberges ist?

Schwenn: Da bin ich sicher. Man fragt sich ja auch, was man in einer anderen Verfahrensrolle tun würde. Ein Generalstaatsanwalt muss in einem solchen Fall Konsequenzen ziehen und sich die bisherigen rechtskräftigen Urteile jener Kammer ansehen, ob es weitere Verfahren gibt, in denen die Sachverständigen des jüngsten Falles mitgewirkt haben und es zu Verurteilungen gekommen ist. Wenn man dann noch das Suchwort "posttraumatische Belastungsstörung" einsetzt, dann hat man die Verdachts"fälle, die Anlass geben würden, von Amts wegen die Prüfung von Wiederaufnahmen zu prüfen. Ich verstehe nicht, wie der Generalstaatsanwalt in Celle ruhig schlafen kann angesichts der Beobachtungen, zu denen die Sache Witte/Wulfhorst Gelegenheit geboten hat. Und ich verstehe auch nicht, wie es sein kann, dass ein Staatsanwalt nicht wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung und der schweren Freiheitsberaubung verfolgt wird, der mit der Billigung seiner Behördenleitung eine Aussage verschweigt, die für die Verfahrensrüge zur --- übrigens auch unwürdigen --- Behandlung des aussagepsychologischen Sachverständigen bedeutsam war. Inzwischen hat sich ergeben, dass der Vorsitzende des für das Ermittlungserzwingungsverfahren zuständigen 2. Strafsenats des Oberlandesgerichts in Celle zu der Zeit, um die es im Fall Witte/Wulfhorst geht, stellvertretender Behördenleiter der Staatsanwaltschaft in Hannover war. Damit war auch er verstrickt in das Verschweigen der Aussage. Dazu muss man außerdem Folgendes wissen: Die Staatsanwaltschaft steht auf dem Standpunkt, man habe die Akteure des von der Hauptbelas"tungszeugin im September 2004 beschriebenen "Mädchenringes" nicht ermitteln können und deshalb die bizarre Aussage der Nebenklägerin unter Verschluss halten müssen. Nun will ich der Staatsanwaltschaft Hannover nicht vorwerfen, dass sie nicht die "Bravo" liest -- sonst hätte sie gewusst, dass es in der Zeit, als die Nebenklägerin der Staatsanwaltschaft nicht zur Verfügung stand, bei "Bravo" ein Interview mit ungepixelten Bildern gegeben hat. Aber ich werfe der Staatsanwaltschaft etwas anderes vor: Nach den ersten Ermittlungen zu diesem vermeintlichen Mädchenring kam es zu einem Treffen zwischen dem Polizeipräsidenten und dem Behördenleiter der Staatsanwaltschaft Hannover. Nun stellen Sie sich mal bitte vor, Sie sind Polizeipräsident, und Sie hören, dass in Ihrem Verantwortungsbereich ständig Kinder vergewaltigt werden sollen, dass angeblich Babys an die Wand geworfen werden und ein Arzt verletzte Kinder wieder fit für den Geschlechtsverkehr spritzt. Da würden Sie als Polizeipräsident doch sagen, die Staatsanwaltschaft kann so lethargisch agieren wie sie will, ich habe für Gefahrenabwehr zu sorgen und lasse deshalb die als Tatorte in Betracht kommenden Häuser durch Beamte des mobilen Einsatzkommandos überholen. Dass der Polizeipräsident damals untätig geblieben ist, ist ihm aber nicht vorzuwerfen. So kann er sich nur deshalb verhalten haben, weil man ihm bei der Staatsanwaltschaft gesagt haben muss, machen Sie sich mal keine Sorgen, das Mädchen ist so schwer traumatisiert, dass es jetzt diesen Unsinn erzählt. Aber damit war schon im Oktober 2004 die Berechtigung entfallen, die Aussage zu verschweigen. Die Staatsanwaltschaft Hannover kann ja auch nicht erklären, warum sie die Aussage im Januar 2008 aufgedeckt hat. Wenn der Bundesgerichtshof die gelesen hätte, hätte er mit Sicherheit nicht gesagt, bei einer fachgerechten aussagepsychologischen Begutachtung wäre nichts anderes herausgekommen. Dann hätten Herr Witte und Herr Wulfhorst eben nicht jahrelang unschuldig gesessen mit den entsprechenden fürchterlichen Folgen für sie und ihre Familien -- und jetzt auch mit äußerst unangenehmen Folgen für den niedersächsischen Steuerzahler, der wahrscheinlich eine siebenstellige Summe als Entschädigung zahlen muss. Und ich verstehe auch nicht, wie man als politisch Verantwortlicher Verhältnisse bei der Staatsanwaltschaft Hannover, die zu solchen Ergebnissen führen, auch nur einen Tag länger dulden kann.

Soll jetzt etwa der Niedersächsische Justizminister eingreifen?

Schwenn: Ja. Eigentlich ist der Generalstaatsanwalt gefordert, für Ordnung zu sorgen. Dazu hat der aber offenbar keine Neigung. Dann muss es der Minister tun. Dazu ist dessen Weisungsbefugnis gegenüber der Staatsanwaltschaft da. Tut er das nicht, müsste sich die Opposition im Niedersächsischen Landtag der Sache annehmen. Das Problem ist aber, dass die falschen Personalentscheidungen teilweise in einer Zeit getroffen worden sind, als nicht die jetzige Koalition in Hannover regierte, sondern eine andere. Man hat also gemeinsam diese Leichen im Keller. Das erklärt vielleicht, wa"rum die politischen Kontrollinstanzen hier auf ganzer Linie versagen. Und bei der Gelegenheit gleich noch etwas: Wenn Sie sich mal die Artikel zu dem Verfahren in der Presse ansehen, dann werden Sie finden, dass manche Ihrer Journalisten-Kollegen der Strafkammer in Hannover und der Staatsanwaltschaft durch eine Berichterstattung sekundieren, die zwischen den Zeilen suggeriert, an den Vorwürfen sei doch etwas dran. Bei Provinzzeitungen ist es häufig zu beobachten, dass die Nähe zu der Obrigkeit in all ihren Darstellungsvarianten so groß ist, dass man es sich mit niemandem verderben will. Da wirkt ein Moment der Korruption. Medienvertreter hören so etwas nicht gerne. Die vierte Gewalt ist es gewohnt, dass allenfalls der Deutsche Presserat mal etwas zu ihrem Wirken sagt, aber das kann man den Medien in ihrer Gesamtheit nicht ersparen: Dieses undifferenzierte, unkritische Abfahren auf das Opferthema ist verantwortungslos. Ich bin der Letzte, der nicht für die Verfolgung gerade von Sexualdelikten eintritt, auch ich bin gelegentlich Nebenklägervertreter, aber man muss es auch richtig machen. Und wenn am Ende Täter und Opfer vertauscht werden, mit Folgen wie im Fall Witte/Wulfhorst, ist das eine Katastrophe.

Gibt es so etwas wie ein System oder einen Automatismus der Unrechtsprechung bei Missbrauchsprozessen?

Schwenn: Es sieht im Grunde genommen immer so aus wie im Verfahren um Herrn Witte und Herrn Wulfhorst: Bei der Polizei oder bei der Staatsanwaltschaft erscheint eine Zeugin, die einen mitleiderregenden Eindruck macht, und berichtet von den ihr zugefügten Verbrechen. Und dieser Eindruck führt dazu, dass man jede Professionalität fahren lässt und von Anfang an davon überzeugt ist, dass man es mit einem Opfer zu tun hat. Dabei weiß man überhaupt nicht, ob die Zeugin, wenn sie nicht ohnehin lügt, tatsächlich Opfer des von ihr Beschuldigten oder Opfer einer psychischen Störung ist. Doch solche psychischen Auffälligkeiten werden nicht nur übersehen, sondern sie werden oft zwanglos mit der Modediagnose der posttraumatischen Belastungsstörung erklärt. Menschen, die etwas Schreckliches erlebt haben, werden oft an psychischen Folgen leiden --- denken Sie an die Überlebenden des Eschede-Unglücks. Aber die seriöse Psychiatrie lehrt vor allem eines: Ein Trauma führt weder zu unwahren Angaben noch zu selbstverletzendem Verhalten. Es gibt keinen empirischen Beleg für die Annahme, dass die Symptome einer Borderline-Persönlichkeitsstörung durch sexuellen Missbrauch ausgelöst werden. Trotzdem ist es das Glaubensbekenntnis vieler Staatsanwälte und leider auch Richter, dass es so sei. Und man lässt sich nach Möglichkeit auch nicht von einem unabhängigen Sachverständigen belehren, sondern von dem Arzt des jeweiligen Mädchens. Das ist die dunkle Seite des Opferschutzes, indem man dem vermeintlichen Opfer bedenkenlos glaubt. Auch der Psychiater des Vertrauens des Landgerichtes Hannover war dem Kreisschluss erlegen, mit der Tat, die ja erst festgestellt werden sollte, sei die Ursache der Störung erklärt. Das ist ein Fehler, den alle Traumatherapeuten machen. Die leben davon. Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Von keinem Traumatherapeuten werden Sie hören, dass kein Trauma vorliegt. Er ist der natürliche Verbündete der Nebenklägervertreterin.

Herr Schwenn, haben Sie bei Ihren Vorwürfen gegen die Justiz keine Angst vor der Strafverfolgung wegen übler Nachrede?

Schwenn: Wegen übler Nachrede wird nur bestraft, wer eine nicht erweisliche ehrenrührige Tatsache behauptet oder verbreitet. Darum handelt es sich hier nicht. Der Behördenleiter der Staatsanwaltschaft Hannover wird sich hüten, für sich und seine Untergebenen den erforderlichen Strafantrag zu stellen, weil er weiß, dass dieser Personenkreis dann zu meiner Entlastung vernommen werden muss. Vor deren Aussagen muss ich keine Angst haben. Nicht zufällig hat der Staatsanwalt, der die Nebenklägerin am 15. September 2004 vernommen hat, sich auf das Auskunftsverweigerungsrecht des Paragraphen 55 Strafprozessordnung berufen. Warum wohl?

(Der Hamburger Johann Schwenn/63, der einst Rechtswissenschaften in Lyon, Tübingen und Hamburg studierte, ist seit 33 Jahren als Fachanwalt für Strafrecht tätig. Der streitbare Hanseat hat sich auch mit Wiederaufnahmeverfahren einen Namen gemacht. Personen der Zeitgeschichte setzen auf seinen Beistand. Zu seinen Mandanten zählten Markus Wolf, Marion Gräfin Dönhoff, Jan Ullrich, Wolf Biermann oder Gregor Gysi. Als Nebenklägervertreter stand er auch Jan-Philipp Reemtsma zur Seite)

Das Interview führte

Dennis Thomas

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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