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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Christian Kucznierz zum Tag der deutschen Einheit

Regensburg (ots)

Es gibt einen Satz der Bundeskanzlerin, an dem sich viele Menschen reiben, zunehmend auch Politiker ihrer eigenen Partei: "Wir schaffen das". Merkel sagte diesen Satz angesichts der anhaltend hohen Flüchtlingszahlen und nach ihrer Entscheidung, entgegen aller rechtlichen Grundlagen Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen zu lassen. Manche sprachen von Merkels "Schröder-Moment" in Anspielung an die Agenda 2010 ihres Vorgängers. Die Analogie ist richtig. Als Gerhard Schröder 2003 sein Reformpaket vorstellte, wusste er, wie tiefgreifend es das Land verändern würde. Er wusste sich des Zorns seiner Partei sicher. Vielleicht wusste er nicht, in welche Sinn- und Existenzkrisen er die SPD für Jahrzehnte stürzen würde. Nur in diesem Punkt ist der Vergleich zu Merkels "Wir schaffen das" nicht stichhaltig. Es ist bislang zumindest nicht absehbar, dass die Union sich über die Flüchtlingsfrage zerstreiten wird. Oder dass Merkel aufgrund ihrer Haltung als Parteichefin und Kanzlerin gehen muss. Viele Dinge werden eine Rolle gespielt haben in der Entscheidung der oft als gefühlskalt dargestellten Kanzlerin: die vielen Toten vor den Küsten, die Erstickten in einem Kühllaster auf der Autobahn, der tote Junge an einem türkischen Strand. Aber eines darf man Angela Merkel nicht unterstellen: dass sie von Emotionen überrumpelt worden ist. Sie mag von der Situation getrieben worden sein, in der Handeln besser war als Untätigkeit. Aber sie wusste sich des Zorns und der Kritik sicher. Wie viel deutlicher sollte sie werden, als sie wenige Tage und nach Kritik von CSU-Chef Horst Seehofer sagte, ein Land, in dem man sich für Mitgefühl in Notsituationen entschuldigen müsse, sei nicht ihr Land? Nein, Merkel wusste, dass sich ihr Land verändert. Das tut es immer, jeden Tag, jedes Jahr. Vor 25 Jahren ist die umfassendste, gravierendste Umgestaltung der Bundesrepublik eingeleitet worden. 25 Jahre sind vergangen, in denen vielerorts im wahrsten Sinne kein Stein auf dem anderen geblieben ist. In dem finanzielle Kraftakte vollbracht wurden, in dem zwei Länder, die eine gemeinsame und eine getrennte Geschichte hatten, begannen, eine neue zu schreiben. Das ist gelungen. Merkels Biografie ist davon geprägt. Sie kennt Veränderung. Und nun hat sie die Veränderung, die jetzt auf das Land zukommt, benannt. Sie hat ihr eine positive Konnotation gegeben. Das ist der entscheidende Unterschied. Das ist, was bleiben könnte. Es ist ist, was bleiben sollte. Europa hat in der Ära nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in einer seltsamen Starre verharrt, in der sich zwar vieles änderte, in der die Vision aber war, dass es keine Vision mehr braucht. Über den Kontinent war eine Art Käseglocke gestülpt worden. Die Sicht durch das Glas war dementsprechend einer verzerrten Perspektive unterworfen: Alles, was außen war, war weit weg. Es ist die Lebenslüge der Post-Block-Zeit, dass Stillstand normal wäre. Es ist die Lebenslüge der konservativen wie der in die Mitte gerückten linken Parteien, dass dieser Zustand haltbar wäre. Europa, das historisch immer im Zentrum von Wanderungsbewegungen stand, und Deutschland im Zentrum dieses Kontinents kann sich dem beständigen Wandel nicht entziehen. Es geht darum, das als Kondition zu akzeptieren und zu gestalten. "Wir schaffen das" ist ein einfacher Satz. Und doch bedeutungsschwer. Er besagt, dass es unser Auftrag ist, anzupacken. Etwas aus dem zu machen, was uns ereilt. Er bedeutet auch, zu gestalten. Gemeinsam. Aber, und das kann man nicht oft genug betonen: Dieser Satz ist auch ein Appell, Ängste und ihre Wegbegleiter - Fremdenfeindlichkeit und Hass - zu überwinden. Es hat eine interessante Wende gegeben in der Rezeption dieses Satzes. Kommentatoren wie Politiker haben begonnen, die Erreichbarkeit des Ziels - die Gestaltung des Wandels - infrage zu stellen. Sie haben die Käseglocke zurück gefordert. Niemand bezweifelt, dass es Probleme geben wird und dass es sie jetzt schon gibt. Im Zusammenleben der Menschen, die zu uns kommen. Bei der Integration. Bei der Erstversorgung und Unterbringung der Flüchtlinge. Niemand stellt in Abrede, dass definiert werden muss, welcher Staat welche Hilfe leistet. Dass das alles Geld kostet. Dass der Gesetzgeber Regeln anpassen muss. Aber: Wort bestimmt Welt. Wenn wir alles düster und schlecht reden, wird das Ergebnis nicht hell und gut werden können. Dieses Land hat in den vergangen 25 Jahren etwas geschafft , das kaum jemand für möglich gehalten hat: die Einheit zu gestalten und aus ihr zu einem starken, führenden, aber integrierten und friedlichen Land zu werden. Gestalten heißt Probleme benennen und sie anzugehen. Es heißt, Visionen zu haben. Merkel hat eine vorgegeben. Endlich einmal. Die nächsten 25 Jahre werden zeigen, was aus ihr geworden ist. Hoffentlich etwas Gutes.

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