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Mittelbayerische Zeitung: Ein grüner Herkules

Regensburg (ots)

Heute wird in Deutschland Geschichte geschrieben: Mit der Wahl von Winfried Kretschmann zum ersten grünen Ministerpräsidenten erfährt Baden-Württemberg nach fast sechs Jahrzehnten CDU-Herrschaft eine historische Zäsur. Die Vereidigung Kretschmanns steht symbolisch für den Höhenflug der Ökopartei, der scheinbar durch nichts aufzuhalten ist. Nun blickt die gesamte Republik gespannt auf den neuen Popstar der Grünen. Die Öffentlichkeit wird die Arbeit der Landesregierung auf Schritt und Tritt verfolgen. Denn im Südwesten wird sich entscheiden, ob Grün-Rot ein Modell für den Bund sein kann. Noch sind die Kretschmann-Fans freudetrunken - doch sie sollten sich nicht in die Tasche lügen. Zunächst müssen sie sich eingestehen, dass der grüne Triumph im eigentlich tiefschwarzen Ländle sehr wohl mit der Reaktorkatastrophe in Japan und den daraus resultierenden schwarz-gelben Wendemanövern zusammenhängt. Ohne Fukushima würde sehr wahrscheinlich Ex-CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus gemeinsam mit den Liberalen weiterregieren. Außerdem kann aus dem grünen Traum, der sich heute in Stuttgart erfüllte, schnell ein Albtraum werden. Die ersten Duftmarken hat Kretschmann schon gesetzt und ist dabei gleich ins größtmögliche Fettnäpfchen getreten. Ausgerechnet im Reich von Daimler, Porsche und Bosch zu fordern, die deutschen Hersteller mögen doch bitte weniger Autos bauen, ist gelinde gesagt verwegen. Denn wer weniger Fahrzeuge produziert, der entlässt auch Mitarbeiter. Aus solchen Forderungen gleich den Untergang des Autolandes zu konstruieren, ist zwar überzogen. Aber man macht es dem politischen Gegner leicht, ein neues Feindbild aufzubauen. Der erste harte Bewährungstests für das grün-rote Bündnis wartet bei einem anderen Verkehrsprojekt. Stuttgart 21 könnte zu einer Dauerbaustelle der Koalition werden. Man stelle sich vor, für die Ökopartei, die im Wahlkampf so vehement gegen den neuen Bahnhof kämpfte, ginge die Volksabstimmung in die Hose, und die SPD, die immer dafür war, gewinnt. Ausgerechnet der neue grüne Verkehrsminister würde dann zum Bauherren des umstrittenen Projekts. Das erklärt, warum Kretschmann nun das von ihm geforderte Referendum mit dem Stresstest für den Tiefbahnhof wieder umgehen will. Das spricht zwar für einen enormen politischen Pragmatismus des Realos. Doch zumindest bei den Stuttgart-21-Gegnern dürfte er mit einem solchen Winkelzug seine Glaubwürdigkeit verspielen. Den beeindruckenden Wählerzulauf haben die Grünen als Oppositionspartei erfahren. Kretschmann wird jetzt an seinen Taten als Regierungschef gemessen. Grün-Rot hat den Wählern viel versprochen: Ein ökologisches Musterland, den schnellen Atomausstieg, mehr Demokratie und politische Transparenz. Hat er Erfolg, könnte er wie einst der grüne Sonnenkönig Joschka Fischer zu einem Dauergaranten für die Popularität der Partei werden. Für die Grünen bestünde dann die Chance, sich als Volkspartei zu etablieren und die FDP dauerhaft als Regierungsmacher zu verdrängen. Vielleicht sogar - wenn die SPD weiter so schwächelt - künftig auch im Bund als Koch, nicht wie einst bei Schröder und Fischer als Kellner. Dafür braucht Kretschmann aber Herkules-Qualitäten, denn sein Weg ist mit Fallstricken gesäumt. Der Grünen-Star wird viele Kompromisse mit der SPD eingehen müssen, ohne dabei die eigenen Anhänger zu verprellen. Um seine Öko-Ideen zu verwirklichen, wird er auch die Konservativen im Ländle überzeugen müssen. Verlieren sich die Grünen aber mitsamt ihrem Versprechen von einem politischen Aufbruch in Kleinkriegen mit dem Koalitionspartner, wird dem Triumph der Absturz folgen. Wie schnell das gehen kann, lehrt das Schicksal der FDP.

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