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WAZ: Präsidentenwahl in Russland - Der Schein trügt - Leitartikel von Florian Hassel

Essen (ots)

Wenige Tage vor der Präsidentenwahl befragte
Russlands letztes unabhängiges Meinungsforschungszentrum Lewda 1600 
Russen. Das Ergebnis: Je länger der so genannte Wahlkampf dauerte, in
dem Oppositionelle nicht registriert oder benachteiligt wurden und im
meinungsmachenden Fernsehen fast nur der designierte Thronfolger 
Dmitrij Medwedew positiv erwähnt wurde, desto desillusionierter 
wurden die meisten Russen. 58 Prozent der Befragten gaben an, die 
Wahl sei eine Farce.
Die Schlussfolgerung, unabhängig vom offiziell verkündeten 
Ergebnis der Sonntagswahl: Die Legitimität des neuen Präsidenten 
Dmitrij Medwedew und seines mutmaßlichen Premierministers Wladimir 
Putin ist wesentlich geringer als die Kreml-Propaganda glauben machen
möchte. Dies stellt besonders den neuen Präsidenten vor ein Problem. 
Medwedew haftet das Image des Softies an, der am Gängelband Putins 
hängt.
Um dies zu ändern, muss sich Medwedew über kurz oder lang von 
Putin emanzipieren. Klebt Putin aber an der Macht und will auch als 
Premierminister die erste politische Geige spielen, dann ist Medwedew
gezwungen, Putin zu entlassen. Oder Putin tritt freiwillig zurück. 
Das ist nicht so unwahrscheinlich, denn hätte Putin die Macht um 
jeden Preis bewahren wollen, so hätte er ohne alle Probleme die 
Verfassung ändern und im Kreml bleiben können. Der - bisher nur 
angekündigte - Wechsel ins Amt des Premierministers diente 
möglicherweise nur dazu, die nicht vorhandene Popularität Medwedews 
durch Putins Ansehen zu stützen und diesem ins Amt zu helfen. Stimmt 
diese Variante, ist auch Putins Abschied von der Macht als Premier 
vorstellbar.
In jedem Fall steht Russland vor zunehmender Instabilität. Die 
Machtelite wird nicht wissen, ob sie sich auf Medwedew umorientieren 
soll. Kämpfe, Festnahmen, auch Morde zwischen den verschiedenen 
Lagern haben schon in den Monaten vor der Wahl zugenommen - sie sind 
mit der Vereidigung eines zunächst schwachen Präsidenten nicht 
vorbei, sondern werden weitergehen, vielleicht zunehmen. Und es 
dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis Russland wieder von einem 
Terroranschlag erschüttert wird. Zudem ist bei rasant steigenden 
Preisen und Mieten mehr als genug sozialer Sprengstoff vorhanden, der
das vom Kreml gepflegte Bild eines aufstrebenden Russland schneller 
zerspringen lassen kann, als Bilder von einem strahlenden Sieger 
Medwedew dies vermuten lassen. Die scheinbar so solide Stabilität im 
heutigen Russland ist brüchiger, als es auf den ersten Blick 
erscheint.

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